Streit um Wohnraum am Kottbusser Tor: Frau Aydin und die steigenden Mieten

Seit zwölf Wochen wehren sich Anwohner am Kottbusser Tor gegen steigende Mieten, heute rufen sie wieder zur Demonstration. Die Frührentnerin Hülya Aydin ist immer dabei.

Jeden Samstag wird am Kotti in Berlin protestiert. Bild: dpa

15. Oktober 2007. Hülya Aydin* zieht mit ihrer Tochter in die Kottbusser Straße, ein GSW-Haus – sieben Etagen, abgeplatzter Putz, vier Satellitenschüsseln. Die Aydins beziehen zwei Zimmer, 67 Quadratmeter. „Eine schöne Wohnung“, findet Hülya Aydin, trotz Blick zur Straße. Sie unterschreibt den Mietvertrag: 444 Euro, alles in allem. Seit ihrem 13. Lebensjahr lebt Aydin in Kreuzberg. Hier fühle sie sich wohl, erzählt die freundliche 56-Jährige mit den kurzen Haaren und den Perlohrringen. Sie habe ihre Freunde in Kreuzberg, ihren Arzt, ihre Cafés: „Meine Heimat.“

12. Februar 2008. Die GSW verkündet für 2007, das Jahr, als Frau Aydin GSW-Mieterin wurde, eine „positive Bilanz“. 53.000 Wohnungen gehören der GSW in Berlin, 17.000 weitere verwaltet sie für andere – kaum ein Wohnungsunternehmen der Stadt ist größer. Die Nettokaltmieten ihrer Häuser seien zum Vorjahr um 4 Prozent gestiegen, auf jetzt 4,59 Euro pro Quadratmeter, freut sich die GSW in ihrer Jahresbilanz. Landesweit lag der Anstieg bei 1,4 Prozent. Man liege „unter dem Mietspiegel“, lobt sich GSW-Vorstand Thomas Zinnöcker. „Für uns stehen Wirtschaftlichkeit und soziale Verantwortung nicht im Gegensatz.“

1. April 2009. Frau Aydin bekommt Post von der GSW. Man erhöhe ihre Miete, „gemäß dem Gesetz über die soziale Wohnraumförderung“. 549 Euro soll Hülya Aydin jetzt zahlen, gut 100 Euro mehr. Sie ist verunsichert. Die einstige Sekretärin ist Frührentnerin, die Gesundheit spielt nicht mit. 300 Euro Rente bekommt Aydin im Monat. Die Miete zahle vor allem ihre Tochter, eine 24-jährige Arzthelferin. Bei ihrem Einzug habe die GSW ihr versichert, ihre Miete steige vorerst nicht, sagt Aydin. Diese Frist sei nun abgelaufen, teilt ihr die GSW mit. Frau Aydin bittet um einen Mietnachlass. Die GSW willigt ein, erlässt 79 Euro im Monat.

Rückblende, 4. Februar 2003. Der rot-rote Senat fasst einen radikalen Entschluss: Das Land steigt aus dem sozialen Wohnungsbau aus – sofort. Das Programm gerät zur Geldschleuder. Die Wohnungserrichter bauen teuer, denn: Eine Mietpreisbindung galt nur für die 15-jährige Förderung. Danach können die Eigentümer ihre Baukosten voll in die Mieten fließen lassen. Das schafft teils Luxuspreise, Kostenmieten von 18 Euro nettokalt pro Quadratmeter – das Land gleicht es aus, mit einer „Anschlussförderung“. Finanzsenator Thilo Sarrazin (SPD) rechnet damals vor: Subventioniere man die noch geförderten 28.000 Wohnungen derart weiter, koste das 3,3 Milliarden Euro. Einzig Bausenator Peter Strieder (SPD) warnt vor nun explodierenden Mieten. Die anderen Senatoren widersprechen, sie halten überteuerte Mieten in Berlin für „nicht durchsetzbar“. Am Kottbusser Tor trifft der Ausstieg gut 1.000 Sozialwohnungen, darunter einige der landeseigenen GSW. Ein Haus steht an der Kottbusser Straße. Dort wohnt heute Hülya Aydin.

10. November 2009. Die GSW schreibt Frau Aydin, diesmal ist es die Betriebskostenabrechnung für 2008. Als Aydin den Brief öffnet, glaubt sie erst an ein Versehen, dann beschleicht sie Angst. 972 Euro soll sie nachzahlen. Hülya Aydin ruft die GSW an, fragt nach. Man könne alles nachweisen, teilt die Sachbearbeiterin mit. Aydin zahlt die 972 Euro in Raten. Ihre Miete beträgt jetzt 647 Euro warm, gut 200 Euro mehr als zum Einzug. Offenbar, denkt Aydin, hat die GSW die Betriebskosten beim Einzug extra niedrig angesetzt. „Damit’s billiger aussieht.“ Sie ist sauer.

Rückblende, 24. Mai 2004. Der rot-rote Senat fällt einen weiteren Beschluss: Er verkauft die landeseigene GSW an ein internationales Konsortium, angeführt von den Fondsgesellschaften Whitehall und Cerberus. 405 Millionen erhält Berlin dafür, auch die GSW-Schulden von 1,5 Milliarden Euro ist das Land los. CDU und FDP loben den Verkauf. Im Kaufvertrag heißt es: Das Land erwarte, dass die GSW weiter ihren „sozial- und wohnungspolitischen Zielen verpflichtet bleibt“. Mieterverbände glauben nicht daran: Die Fonds würden Mieten erhöhen und sparen, wo sie können, um Rendite zu machen. Das Haus an der Kottbusser Straße, es ist jetzt privatisiert.

12. Oktober 2010. Diesmal schreibt Hülya Aydin einen Brief an die GSW. Sie bittet nochmals um einen Mietnachlass, nachdem ihre Kaltmiete zu Jahresbeginn erneut um 8 Euro erhöht wurde. „Zinsänderungen der Kapitalkosten“, begründet die GSW den Anstieg. Geld für Investitionen, mit dem die GSW 2009 etwa Wohnungsankäufe und Sanierungen finanzierte. Den Mietnachlass für Frau Aydin lehnt das Unternehmen ab. „Wir sind gerne bereit, Ihnen eine andere Wohnung anzubieten“, schreibt die GSW. Frau Aydin lässt sich darauf ein, besucht Wohnungen, allesamt kleiner als ihre jetzige. Zu klein für ihre Tochter und sie, sagt Hülya Aydin. Sie bleibt am Kotti. Und zahlt mehr.

10. März 2011: Frau Aydin erhält ihre nächste Mieterhöhung. „Laufende Aufwendungen“, schreibt die GSW diesmal. Die Kaltmiete steigt jetzt von 364 auf 367 Euro, zugleich aber erlässt die GSW vorläufig 11 Euro Miete im Monat – muss sie erlassen. Nach dem Ausstieg aus dem Sozialen Wohnungsbau hat der Senat noch bis zum Jahresende 2011 eine Mietobergrenze für 14 Großsiedlungen, auch die am Kotti, festgelegt – 5,35 Euro nettokalt. So sollen die Sozialmieten im Rahmen bleiben. Frau Aydins Haus wurde 1980 fertig gebaut, die Kostenmiete soll 10,59 Euro pro Quadratmeter betragen. Mit dem GSW-Rabatt bleibt die Kaltmiete der 56-Jährigen bei 5,31 Euro, knapp unter dem Erlaubten.

15. April 2011: Die GSW geht an die Börse. Aktionären verspricht das Unternehmen „steigende Erträge“ durch „Zukäufe, steigende Mieten und reduzierte Leerstände“. Bereits in den letzten vier Jahren, wirbt die GSW, habe man ein „erhebliches Wachstum der Mieteinnahmen erreicht“ – eine jährliche Steigerung um 2,9 Prozent. Der Börsengang lohnt: Die GSW-Aktie steigt im ersten Jahr von 20 auf 29 Euro. Frau Aydin erfährt davon nichts. Das mit den steigenden Mieten aber stimmt: 660 Euro warm zahlt Aydin inzwischen, ein Anstieg von 48 Prozent zu ihrem Einzug vor vier Jahren. Ihre 300 Euro Frührente sind nicht gestiegen.

18. Juni 2011: Frau Aydin machen die ständigen Mieterhöhungen stutzig. Sie besucht das erste Mal ein Mietertreffen in ihrer Nachbarschaft. Ein loser Austausch im Café Südblock, aus dem die Initiative „Kotti und Co“ wird. Anwohner berichten von steigenden Mieten, von Briefen des Jobcenters, ihre Mietausgaben zu senken, von teuren Neuvermietungen nach Auszügen. Hülya Aydin erzählt von einem Nachbarn, der nach Spandau ziehen musste. Alle anderen aber, berichtet Aydin, wollen bleiben. Nun zahle eben mancher ihrer Bekannten die Hälfte seines Einkommens für die Miete.

1. April 2012: Hülya Aydin erhält ihre vorerst letzte Mieterhöhung. Die Kappungsgrenze des Senats ist abgelaufen, die GSW kann die Mietpreise jetzt frei erhöhen. 5,42 Euro nettokalt pro Quadratmeter zahlt Aydin jetzt für ihre Sozialwohnung. Der Mietspiegel listet für ihre Straße einen Preis von 4,35 Euro. Die GSW gewährt Frau Aydin wieder einen Rabatt, die Gesamtmiete bleibt bei 660 Euro. „Zinsänderung der Aufwendungsdarlehen“, begründet das Wohnungsunternehmen seine Erhöhung der Kaltmiete. Die Darlehen gewährte Berlin zum sozialen Häuserbau, nun zahlt die GSW diese zurück ans Land. Würde Berlin hier zurückstecken, sagen die Leute von „Kotti und Co“, bräuchte es auch keine Mieterhöhungen. Das ist das eine. Das andere verkündet die GSW wenig später in ihrer Bilanz für 2011: ein Gewinn von 105 Millionen Euro, auch dank der „überdurchschnittlichen Mieten“. Die neuen GSW-Aktionäre erhalten ihre erste Dividende, 90 Cent pro Aktie.

26. Mai 2012: Nur wenige Meter von Aydins Wohnung entschließen sich die Leute von „Kotti und Co“ zu einem Protestcamp. Rund 20 Anwohner bauen am Kottbusser Tor eine Holzhütte auf, hängen Plakate und Transparente davor. Und bleiben, Tag und Nacht, bis heute. „Bei uns brennt die Luft“, heißt es in einer Erklärung. Was sei an diesem sozialen Wohnungsbau noch sozial? Die Widerständler fordern eine vorübergehende Mietkappung auf 4 Euro für Großraumsiedlungen wie den Kotti. Sie wollen eine gemeinsame Konferenz mit dem Senat und für den sozialen Wohnungsbau eine „nachhaltige“ Lösung. Hülya Aydin war noch nicht auf vielen Demonstrationen in ihrem Leben. In dem Protestcamp ist sie aber von Anfang an dabei. „Immer nur Mund halten, geht nicht“, sagt sie. „Man muss etwas machen.“ Aydin ist fast jeden Tag im Camp, kocht dort Tee, verteilt Flugblätter, plaudert mit Freunden. Sie hat sich mit einer Nachbarin zusammengetan, einer jungen Psychologin. Beide gehen jetzt gemeinsam die Briefe der GSW durch. Frau Aydin ruft jetzt öfter bei dem Unternehmen an, fragt nach. Der kleine Aufstand, er gefällt ihr.

2. Juli 2012: Stadtentwicklungssenator Michael Müller (SPD) schickt dem Protestcamp ein Schreiben. Die Konferenz sagt er zu. Mehr aber nicht. Die Mietkappung sei nicht finanzierbar, schreibt Müller. Auch hätten bei 80 Prozent der rund 150.000 Berliner Sozialwohnungen die Mietsteigerungen in den letzten Jahren unter einem Euro pro Quadratmeter gelegen. Das, so der Senator, sei „tragbar“.

18. Juli 2012: Die GSW will sich gegenüber der taz zum Protestcamp am Kotti nicht äußern. „Dazu sehen wir keinen Bedarf“, sagt ein Sprecher. Die Mieter könnten sich direkt an das Unternehmen wenden. Die Kotti-Mieter laden die GSW in ihr Protestcamp ein. Das Unternehmen reagiert nicht.

30. Juli 2012: Hülya Aydin erhält von der GSW ihre Betriebskostenabrechnung für 2011. Die 56-Jährige staunt. 312 Euro erhält Aydin zurück, die GSW hat die Kosten gesenkt. Die Rentnerin bringt das Schreiben mit ins Protestcamp. „Das haben wir gut gemacht“, sagt sie.

17. August 2012. Frau Aydin ist noch immer im Camp, seit zwölf Wochen schon. Keine der samstäglichen „Lärm-Demos“ durch Kreuzberg hat sie verpasst. Sie bleibe, sagt sie, bis die Miete gesenkt sei – „für alle hier“. Aydin sitzt auf einer der Bierbänke, nippt an einem Kaffeebecher. Niemand habe früher am Kotti wohnen wollen, sagt sie. Heute sei er „zu Gold“ geworden. „Weil wir ihn zu Gold gemacht haben.“ Da werde sie sich doch jetzt nicht vertreiben lassen. Auf dem Tisch neben sich hat Frau Aydin ihre schwarze Handtasche gelegt. Sie hat einen weißen Sticker darauf geklebt: „I love Kotti.“

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