Überwachung vs. Demokratie: Staat im Selbstzerstörungsmodus

Das Immunsystem des demokratischen Rechtsstaates versagt. Die umfassende Überwachung verhindert eine Kontrolle durch die Gesellschaft.

Der überwachte Bürger wird zum wehrlosen Bürger. Bild: dpa

Elke kennt ihren Partner Tom sehr gut. Daher weiß sie, dass er morgens schläfrig ist und die Kleidung anzieht, die auf dem Stuhl obenauf liegt. Dieses Wissen nutzt sie, um seine Kleiderwahl zu beeinflussen: Sie legt die Sachen, die sie gerne an ihm sehen will, nach oben auf den Stapel. Sie nutzt ihr Wissen, um Einfluss auf Tom zu nehmen, der das im Einzelnen nicht mal unbedingt mitbekommt. Glücklicherweise ist Elke für Tom ein Gegenüber auf Augenhöhe, mit dem er sich auseinandersetzen kann.

Genau das fehlt beim Überwachungsstaat. Dort ist die Überwachungsinstanz, in unserem Beispiel „Elke“, nicht sichtbar und nicht greifbar. Trotzdem erforscht sie Toms Vorlieben, Gewohnheiten, Macken und Berechenbarkeiten mit sehr viel größerer, nämlich digitaler, Gründlichkeit. Jede kleinste Regung, jeder Gemütszustand und jede Äußerung werden akribisch aufgezeichnet und ausgewertet.

Dies tut sie nicht aus Fürsorge, sondern aus Gründen, die Tom nicht bekannt sind. Tom weiß nichts über diese vage „Elke“ oder wie sie die gesammelten Informationen einsetzt. Manipulation funktioniert noch viel besser, wenn Menschen nicht wissen, dass sie manipuliert werden.

Billionen winzigster Wesen in und auf uns bestimmen, wer wir sind. Aber wie genau? Die Titelgeschichte "Du bist nicht allein" lesen Sie in der taz.am wochenende vom 7./8. September 2013 . Warum Überwachung die Autoimmunerkrankung der Demokratie ist, erklärt die Philosophin Leena Simon. Und: Heide Oestreich und Stefan Reinecke beschreiben die Merkel-Maschine. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

Wenn wenige Menschen viel über viele andere Menschen wissen, dann können sie dieses Wissen nutzen, um das Handeln ganzer Massen zu steuern. Man kann leicht verdrängen, was durch technischen Fortschritt zunehmend mit uns passiert. Durch Technik, die uns eigentlich voranbringen sollte. Technik, die das Potenzial hätte, unsere Kommunikation zu beflügeln und zu befreien.

Inaktive Abwehrsysteme

Der Widerstand gegen alles, was mit „Terrorbekämpfung“ und mit „Sicherheit“ gerechtfertigt wird, hält sich jedoch in Grenzen. Eine Autoimmunkrankheit kann lange unentdeckt bleiben. Erst wenn sie ausbricht, wird das Ausmaß klar.

Jeder Organismus hat ein Abwehrsystem, das Probleme erkennt und beseitigt. Im demokratischen Organismus sind das Menschen, die man im weitesten Sinne als „Staatsdiener“ bezeichnet. Also Politiker, Polizistinnen, Ministerialräte, Richterinnen und Beamte. Sie bilden das Immunsystem des demokratischen Organismus.

Oder sie sollten es zumindest sein.

Das Immunsystem wird unterstützt vom gesamten Organismus, in unserem Falle den Menschen, die Störungen im Zusammenleben finden und benennen. Man nennt das Zivilcourage. Je mehr es davon gibt, desto besser arbeitet unser Immunsystem.

Gestörte Kommunikation

Kommunikation wirkt wie Vitamine. Ohne diese Vitamine wird unser Schutzmechanismus sehr schwach. Wo Probleme nicht benannt werden, werden sie auch nicht behoben. Und dann funktioniert Demokratie nicht einmal mehr in der Theorie.

Wir brauchen Menschen, die öffentliche Prozesse kritisch hinterfragen. Damit wehren sie Keime ab und tragen zur Selbstheilung unseres Organismus bei, sie achten darauf, dass Angreifer auf den demokratischen Organismus erkannt und unschädlich gemacht werden. Sie müssen frei und ohne Angst sprechen können. Ohne freie, offene und unkontrollierte Kommunikation wird das Benennen von Problemen nämlich schwierig. Bei Snowden und anderen Whistleblowern kann man sehen, wie gefährlich heute Zivilcourage sein kann.

Ist die Kommunikation gestört, können einerseits Missstände nicht mehr benannt werden, andererseits ist es nicht mehr möglich zu beurteilen, welche Informationen „objektiv“ sind und welche uns gezielt steuern sollen. Wir sehen das am Beispiel Syrien: Gab es einen Giftgasangriff? War es das Regime, die Regierung, die Rebellen, die CIA oder eine noch völlig unbekannte Entität, die Verwirrung stiften und aufstacheln möchte und eine ganz eigene Agenda hat?

Wie sollen wir ohne eine Antwort auf diese Fragen entscheiden können, welches Handeln angemessen ist? Nicht ohne Grund haben wir Meinungs- und Pressefreiheit als Grundwerte der Demokratie erkannt und unter besonderen Schutz gestellt.

Die Demokratie leidet

Diese Freiheiten sollen den Organismus vor dem Immunsystem schützen. Wenn das nicht funktioniert, und das Immunsystem selbst den Organismus angreift, bezeichnet man das als Autoimmunerkrankung. Unsere Demokratie leidet daran.

Nicht erst seit dem 11. September 2001 können wir eine zunehmende Überfunktion des Immunsystems beobachten. Menschen, die eigentlich Teil des Organismus sind, werden als „Feinde“ markiert und beseitigt. Das Immunsystem will den Organismus schützen, aber es zerstört ihn dabei.

Überwachung hat dabei zwei unterschiedliche Folgen. Zum einen werden wir – wie oben dargestellt – unseres Urteilsvermögens beraubt. Zum anderen geben wir mehr und mehr die Hoffnung auf, überhaupt noch Einfluss zu haben. Denn unterbewusst merken wir deutlich, dass wir gesteuert werden. Beides ist höchst giftig für einen Organismus, der auf der Herrschaft des Volkes basieren möchte.

Man kann das demokratische System als Ganzes kritisieren und kommt dann in die Verlegenheit, sich etwas Neues einfallen lassen zu müssen. Doch wer Demokratie propagiert und durch sie sogar Macht erlangt, sollte sich hüten, ihr gleichzeitig ihren wichtigsten Abwehrmechanismus zu rauben: freie, unkontrollierte und unbeobachtete Kommunikation, auch die digital vernetzte. In einem Überwachungsstaat ist keine Demokratie mehr möglich.

Wir können diese Krankheit noch besiegen. Wenn wir nicht darauf warten, dass ihre Symptome sichtbar werden.

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