Senden ist Sein

Wir leben im Zeitalter des Politainments, und trotzdem besteht kein Grund zur Sorge: Unsere Unterhaltungsöffentlichkeit bietet Bilder des Politischen, die durchaus im Sinne einer republikanischen Kultur gedeutet werden können. Eine vorläufige Bilanz

Bewahre dein Misstrauen! Nimm die Medienrealität als eine von vielen Welten wahr!

von ANDREAS DÖRNER

In den 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts wurde die Unterhaltungsindustrie gleichsam zum Verschwörungstheoretiker in eigener Sache. Die Medien als große Täuschungsmaschinerie, das ist das zugleich erschreckende wie faszinierende Bild, das die Macher in monumentalen Allmachtsfantasien von sich selbst entwarfen.

In „Wag the Dog“ ist es die PR-Maschinerie des amerikanischen Präsidenten, die dem Volk zur Ablenkung von einem drohenden Sexskandal einen fiktiven Krieg gegen das weit entfernte und unbekannte Albanien serviert, inklusive erfundener Kriegshelden und patriotischer Lieder. Noch einen Schritt weiter geht „The Truman Show“. Hier wird das gesamte Leben eines Versicherungsvertreters als Erfindung und perfekte Inszenierung einer Fernsehproduktion gezeigt. Truman Burbank fungiert seit Geburt ohne sein Wissen als Star einer Soapopera.

Bei näherem Hinsehen wirken „Wag the Dog“ und „The Truman Show“ wie eine Verfilmung jener großen Verblendungsszenarien, die das ideologiekritische Denken von Karl Marx über die Frankfurter Schule bis zu Pierre Bourdieu formuliert hat. Mit Bourdieu ergriff noch kürzlich eine der prominentesten Stimmen der sozialwissenschaftlichen Intelligenz das Wort, um das Fernsehen als „eine sehr große Gefahr“ für Kunst, Literatur, Wissenschaft und für das öffentliche Leben insgesamt zu geißeln. In Bourdieus Sicht sind es jedoch nicht Akteure, die als Drahtzieher im Hintergrund fungieren, sondern das Böse materialisiert sich in Strukturen, und sein perfides Steuerungsinstrument sind Einschaltquoten und Marktanteile. In bester ideologiekritischer Tradition ereifert sich Bourdieu als ein Apokalyptiker, der den Akteuren, das heißt den Machern und ihrem Publikum, eine Einsicht in ihre Tätigkeit gar nicht erst zutraut und ihre Erlösung aus der Unwissenheit allein als Resultat der Bourdieu’schen Aufklärungsmission zu denken weiß. Das Fernsehen jedenfalls habe ein „faktisches Monopol bei der Bildung der Hirne eines Großteils der Menschen“ und entfalte daher eine „Wirkung ohnegleichen“.

Bourdieu greift ohne Zweifel wichtige Fragen auf, aber beantwortet er sie auch überzeugend? Mit dem Wirkungsaspekt ist zugleich ein Knackpunkt des ideologiekritischen Paradigmas angesprochen. „Wirkung ohnegleichen“ nämlich, wie sie schon die Klassiker der Frankfurter Schule in ähnlicher Weise unterstellten, konnte empirisch nie nachgewiesen werden. Stattdessen zeigt die neuere Rezeptions- und Aneignungsforschung ein komplexeres Bild. Die Zuschauer bauen die medialen Angebote in den alltäglichen Prozess der Kommunikation ein, ohne die Vorgaben einfach zu übernehmen. Sie nutzen die Materialien zur Konstruktion von Realität und Identität. Sie deuten die Bilder vor dem Horizont der eigenen Lebensgeschichte und im Rahmen der aktuellen Lebenssituation. Sie selektieren und montieren, wie es ihnen gerade passt.

Auch ein Blick auf die oben erwähnten Hollywood-Produktionen zeigt, dass die Antwort allemal nicht so eindeutig ausfallen kann, wie dies Bourdieu und Vorgänger glauben machen wollen. Sowohl „Wag the Dog“ als auch „The Truman Show“ erzählen Geschichten, die in deutliche Warnungen an den Zuschauer münden: „Rechne stets damit, getäuscht und betrogen zu werden, damit du dich nicht in einer medial konstruierten Scheinwelt verlierst. Bewahre dein Misstrauen und nimm die Medienrealität als eine von mehreren möglichen Welten wahr, die weiterer Beglaubigungen bedarf, bevor du ihr den handlungsleitenden Status der Wirklichkeit verleihst.“

Man muss freilich nicht auf diese, in einer langen Tradition des kritischen Films stehenden Beispiele rekurrieren. Auch die Untersuchung von deutschen Talkshows und Serien, von Fernsehkrimis und Kinofilmen zeigt ein differenzierteres Bild. Die Unterhaltungsöffentlichkeit, wie wir sie im Deutschland der 90er-Jahre vorfinden, ist keinesfalls durchgehend durch Eskapismus, eine Abwesenheit des Politischen, durch autoritäre Handlungsmuster oder durch realitätsferne Verzerrungen gekennzeichnet.

Politainment verfolgt primär Unterhaltungszwecke. Entsprechend wird das Politische nicht in der Form von anspruchsvollen Hintergrundberichten und Analysen präsentiert, sondern in Form von Unterhaltungsformaten. Einfache Erzählungen, Anekdoten und pointiert zugespitzte Aussagen konstituieren hier den Normalmodus des Politischen. In dieser Reduktion liegen zweifellos Verzerrungen und Verkürzungen dessen, was die Komplexität politischer Prozesse in der außermedialen Realität ausmacht. Diesem Manko steht jedoch eine Veranschaulichung und Verlebendigung der politischen Welt gegenüber. Unterhaltsame Anekdoten und fiktionale Erzählungen können politische Probleme und auch Lösungsperspektiven mit einer Reichweite vermitteln, die sonst unvorstellbar wäre.

Politainment bewirkt eine Visualisierung des Politischen. Nicht nur politische Akteure, sondern auch Positionen und Konfliktlinien werden etwa in der Talk-Kultur sichtbar gemacht. Damit ist eine nicht gering zu schätzende Orientierungsleistung für das Publikum verbunden. Die relevanten Akteure wiederum, die gesellschaftlichen und politischen Eliten, stehen gleichsam unter medialer Dauerbeobachtung. Jürgen W. Möllemanns süffisanter Vorschlag, Politiker zu Wahlkampfzeiten in einen „Big Brother“-Container zu sperren, ist nur die konsequente Zuspitzung dieser Beobachtungssituation in der Mediendemokratie.

Die Techniken des Entertainments ermöglichen es, das Politische im Modus des Feel good darzubieten und dadurch eine positive Grundstimmung zu produzieren, die Entfremdungs- und Ablehnungstendenzen im Sinne der weit verbreiteten Politikverdrossenheit durchaus entgegenwirken kann. Vor allem verknüpft mit den Effekten der Serialität, die ein Gefühl von Kontinuität und Verlässlichkeit produzieren, kann Politainment auch als ein Stabilisator von politischem Systemvertrauen fungieren. Mediales Feel good ist zwar seinerseits, etwa im Kontext von Wahlkämpfen, instrumentalisierbar. Zudem entsteht die ernsthafte Gefahr einer Unterhaltungsfalle, in die zeitweise auch Gerhard Schröder nach seinem entertainisierten Wahlkampf 1998 hineingetappt ist. Die Fiktionalisierung des Politischen im Modus des Feel good nämlich kann Erwartungshorizonte aufbauen, die später mit der grauen Realität des politischen Alltags heftig kollidieren. Grundsätzlich jedoch ist die Gefühlsqualität unterhaltender Politik und politischer Unterhaltung als Integrationsfaktor einer modernen Massendemokratie keineswegs von geringem Wert. Dies gilt umso mehr, wenn man sich die auf diese Weise emotionalisierten Inhalte des Politainments anschaut.

In den Unterhaltungsserien werden nämlich politische Modellidentitäten angeboten, die Moralität, Engagementbereitschaft und Zivilcourage propagieren. Diese Dispositionen erscheinen in der deutschen Serienwelt nicht nur als gut und sinnhaft, sondern auch als verbunden mit Spaß und Spannung. Politisches Engagement erfüllt hier durchaus die Anforderungen der Erlebnisgesellschaft. Die Botschaft lautet: Engagement, Selbstverwirklichung und hedonistische Momente widersprechen sich nicht, sondern sie sind bestens miteinander zu verbinden.

Freilich ist zu beobachten, dass diese Synthese einer zeitgemäßen politischen Identität vor allem im mikropolitischen Bereich, in der Politik „vor Ort“ zum Zuge kommt und nur selten – wie in der amerikanischen Medienwelt – auch in die Sphäre der großen Politik vorstößt. Letztere nämlich erweist sich in Deutschland häufiger als die Sphäre eines großen Misstrauens gegenüber den Machenschaften der Mächtigen. Dieser im Gegensatz zu vielen Simplifikationen stehende Hang zur Systemkritik, der sich pikanterweise gerade in den Thriller-Produktionen der privaten Fernsehanbieter nachweisen lässt, mag aber auch gerade als Vorteil des deutschen Politainments erscheinen, insistiert er doch auf kritischer Aufmerksamkeit als wichtigem Grundton der politischen Existenz.

Vor allem die Serien offenbaren ein Bild der Möglichkeit von „guter Politik“, das in seiner konkreten Anschaulichkeit auch ermutigend wirken kann. Die professionell inszenierten Fernseherzählungen verbinden den Feel-good-Faktor mit alltagsnahen Erzählungen, die uns immer wieder zeigen, dass das Engagement in kleinen Schritten durchaus Früchte trägt. Vom umweltpolitischen Einsatz des Waldarbeiters im „Forsthaus Falkenau“ bis zur Bürgerinitiative in der „Lindenstraße“ lautet die Moral: Der Einsatz lohnt sich!

Bemerkenswert vor dem Hintergrund der deutschen Tradition erscheint dabei, dass politisches Handeln auch mit Aktionen zivilen Ungehorsams und mit Formen des Insurrektionshandelns verbunden ist, das sich nicht länger durch Vorschriften und Vorgesetzte binden lässt, wenn das gemeinwohlorientierte Gewissen Handlungsbedarf anzeigt. Damit aber verliert spätestens hier die Unterhaltungskultur den häufig unterstellten affirmativen Charakter. Republikanismus als politische Identität, wie sie im Politainment propagiert wird, ist immer auch eine kritische und auf Veränderung zielende Identität.

Unterhaltungsöffentlichkeit ist, dies sei nochmals betont, nicht primär eine aufklärerische Öffentlichkeit. Wer dies erwartet, geht von einer falschen Funktionsbestimmung aus. Und dennoch ist, so viel sollte nach den vorangehenden Untersuchungen festzuhalten sein, kein Grund für apokalyptische Verfallsszenarien gegeben. Denn die Unterhaltungsöffentlichkeit bietet Bilder des Politischen, die im Sinne einer republikanischen politischen Kultur positiv gewertet werden können. Nicht mehr der deutsche Untertan, nicht der Unpolitische oder der politikferne Quietist bevölkern die öffentliche Wahrnehmungswelt deutscher Bildschirme, sondern gewissenhafte Moralisten und engagierte Republikaner.

Truman Burbank, der unfreiwillige Star einer lebenslänglichen Seifenoper, erlebt seine Flucht aus der Truman Show als Befreiung. Die realen Bürger, Wähler und Fernsehzuschauer dagegen suchen immer mehr den Weg in die Medien hinein. Partizipative Formate wie Game- und Talkshows oder Doku-Soaps verzeichnen einen ungebrochenen Zulauf, der die Maxime des Medienzeitalters – „ich werde gesendet, also bin ich“ – Tag für Tag eindrucksvoll bestätigt. Es ist absehbar, dass die medialen Unterhaltungsimperative das öffentliche Leben dieser Republik in Zukunft noch stärker bestimmen und dafür sorgen, dass die Wahrnehmungswelt des Politischen ohne professionelles Politainment nicht mehr vorstellbar sein wird.

Vom Autor erscheint in diesen Tagen bei Suhrkamp der Band „Politainment – Politik in der medialen Erlebnisgesellschaft“. Darin findet sich auch dieser ungekürzte Text