kunstquartier venedig
: Die neuen Topografien der Kunst reichen bis zum Pazifik

Binäre Flechten auf der Seufzerbrücke

Die Stadt ist dicht, komplett, ausgebucht, seit über zwei Monaten. Jetzt heißt es Gruppen bilden. Wer Glück hat, findet über die Mitwohnzentrale in Venedig noch eine Wohnung, die er mit fünf durchaus netten Menschen teilen kann. Das Haus nahe der Fondamenta Nuove liegt nicht in der schlechtesten Gegend, Fernsehen gibt es auch, nur keinen Telefonanschluss. Deshalb werden die Texte von der Biennale über Handy ans Mutterschiff in der Berliner Kochstraße gesendet, mit einem stillen Gebet auf den Lippen, dass der Gott der Telekommunikation nicht wieder das Mobilnetz runterfährt. Gestern hat er es getan, gleich zweitausendmal hintereinander.

Nicht nur die Kunstkundschaft hat Probleme mit dem Unterschlupf. Selbst die Aussteller leiden mittlerweile unter akutem Raummangel. Immer mehr Länder drängen auf den weiter boomenden Markt der Biennalen. In den traditionellen Giardini ist aber kein Platz mehr, zuletzt hat es Island gerade noch geschafft und sich einen kleinen Schnellbau in den Park hieven lassen. Der Rest ist nationales Terrain, auf 32 Länder verteilt. Hier war er angesiedelt, der Spirit der Moderne: Irgendwo zwischen USA und Ägypten, zwischen Israel, Italien, Deutschland und der Sowjetunion.

Doch über dem sowjetischen Pavillon weht heute die Flagge der Ukraine, während das jugoslawische Gebäude demonstrativ Moskauer Künstlern zur Verfügung gestellt wurde. Die Länder funktionieren nicht mehr repräsentativ nach dem Modell von Nationalstaaten, eher wie Special-Interest-Zellen im Namen der Kunst. Auch aus diesem Grund wird seit Jahren schon ausgelagert. Jugoslawien hat sich in seine Nachfolgestaaten zersplittert und über das Stadtgebiet von Venedig verteilt. Kroatien findet man in einer katholischen Kulturstiftung, Slowenien ist in der privaten A+A-Galerie untergebracht. Schräg gegenüber der Ausstellung mit Wandtafeln zur Migration von Sexworkern all over the world bietet ein kleiner Antiquitätenhandel barocken Nippes und Faschingsmasken an. So ist auch die postsozialistische Wirklichkeit angekommen in Venedig.

Die neuen Topografien der Kunst reichen allerdings nicht bloß bis zum Balkan. Der Treck geht weiter, bis zum Pazifik. Erstmals sind in diesem Jahr Singapur und Neuseeland mit einem Showroom auf der Biennale vertreten, „nach einem 30 Jahre währenden Kampf mit den Behörden“, wie der neuseeländische Kurator Gregory Burke erzählt. Schon damals hatten einheimische Künstler auf eine größere internationale Präsenz gedrängt, aber „anders als Orchester und Theater ist die Kunst in Neuseeland nicht so gut organisiert, gerade wenn es um öffentliche Gelder geht“.

Geklappt hat es diesmal auch wegen Peter Robinson. Der nach einem Stipendium des Aachener Ludwig-Forum inzwischen in Berlin lebende Installationskünstler stammt mütterlicherseits von Maori ab und zitiert sich in seinen Arbeiten querbeet durch europäische und pazifische Kulturen – ein bisschen Sartre hier, ein bisschen Ethno-Zeichenkunde dort, dazu Dantes „Göttliche Komödie“. Dabei bildet die mathematische Kombination aus 1/0 als ordnendes Ornament stets das Zentrum. Ein wenig verwirrend überträgt Robinson literarische Referenzen in einen spiralenförmig angelegten ASCII-Code, zum anderen steht das binäre Geflecht für seine Maori-Herkunft. Dort bedeutet es „parentless child“, als Symbol für eine Gottheit, eine Idee oder eine Person, deren Ursprung sich nicht zurückverfolgen lässt.

Die Genealogie des Pavillons ist einfacher aufzudröseln. Im Mai letzten Jahres hat sich die neuseeländische Regierungschefin Helen Clark für eine Teilnahme ihres Landes entschieden, um den kulturellen Austausch zu stärken. Es gab kaum Widerrede, zumal Clark in Personalunion Prime Minister und Kulturministerin von Neuseeland ist. Jetzt hat die Kommission von einer der unzähligen Kirchengemeinden ein Diözesangebäude direkt hinter der Seufzerbrücke gemietet, das für mindestens sechs Jahre genutzt werden soll. Wenn es gut geht, wird daraus eine feste Adresse. Voila, der Anfang ist gemacht.

HARALD FRICKE