Prada im Hüttendorf

Anthropologie und Entertainment: Harald Szeemann hat für die diesjährige Biennale in Venedig nach dem „Plateau der Menschheit“ gesucht – und dann doch nur ein paar Nischen gefunden, in denen auf zahllosen Videos und Fotos mit der Realität von Körpern und Korporatisierungen gekämpft wird

Szeemann will, dass sich die Kunst vermehrt und neue Verbindungen eingeht

von HARALD FRICKE

Ein Kind explodiert. Es wächst und wuchert, immer weiter, die Organe dehnen sich aus und bilden neue Organe, die sich noch mehr tentakelnartig ausweiten. Irgendwann ragt das Monstrum über die Stadt. Der Comicfilm „Akira“ ist zum Synonym einer Welt geworden, in der die Zeichen außer Kontrolle geraten sind. Vielleicht sieht es im Kopf des Ausstellungsmachers Harald Szeemann ganz ähnlich aus. Er will, dass sich die Kunst vermehrt, ausbreitet, neue Verbindungen eingeht und schließlich zum Leben wird. Deshalb hat er sein Programm zur 49. Biennale in Venedig auch ein „Plateau der Menschheit“ genannt, auf dem alles mit allem zusammenzupassen scheint.

Offensichtlich mit Erfolg: Größer, voller und vielfältiger war bislang keine Biennale. Während sich in den Giardini und über die Stadt verteilt mittlerweile 32 Länder als Nationen mit Sinn für Kultur darstellen, konnte Szeemann für sein Begleitprogramm zusätzlich an die hundert Künstler einladen. Das ist selbst nach dem ausufernden „Apertutto“-Parcours vor zwei Jahren noch eine Steigerung, für die ihm entsprechend mehr Räume im Arsenal zur Verfügung gestellt wurden – auch weil in Szeemanns Vorstellung einer perfekten Ausstellung alle Kunstformen dazu gehören. Nun gibt es Beuys als Oper, und ganze Straßenzüge sind mit Gedichten an Wäscheleinen vollgehängt. Spätestens in zwei Jahren wird Venedig bei dieser Art rhizomatischem Wachstumsirrsinn zu klein sein – oder die Stadt muss anbauen, auf dem Festland, im Internet.

Umgekehrt verbergen sich hinter der extremen Freude an der verschwenderischen Fülle klare ökonomische Vorgaben. Einen Tag nach der Biennale eröffnet die Kunstmesse in Basel, keine andere Woche im Jahr sind so viele Sammler, Galeristen, Kuratoren und Museumsdirektoren unterwegs. Insofern ist Venedig ein vorgelagerter Businesstreff, auf dem bei Sonnenschein in den Gärten am Canale Grande geregelt werden kann, was der Markt derzeit hergibt: massenweise Video, Verweiskunst und eine programmatische Rückkehr zum Körper. Der Klatsch regelt das Geschäft – bekommt Vanessa Beecroft mit ihrer neuen Serie wandgroßer Kalenderblätter, die im Stil von Parfümreklamen fotografiert sind, eine Einzelausstellung in der Wiener Kunsthalle? Oder werden die Arbeiten doch besser gleich bei Larry Gagosian in dessen Zweitgalerie in Beverly Hills gezeigt? Ist Cy Twombly wieder hoch im Kurs, wenn er in Venedig einen großzügigen Raum für seine neonfarbenen Spurenbilder angeboten kriegt? Und hängen Neo Rauchs surreale Handwerkerfantasien nicht prima neben Gerhard Richters abstrakten roten Rhomben?

Tatsächlich, es ist so: Beecroft geht nach Hollywood, Rauch verkauft sich fast schon wie Richter. Und Twombly hat für seine „herausragenden malerischen Leistungen“ einen Goldenen Löwen erhalten. Der Ehrenpreis für Bildhauerei ging an Richard Serras Schwindel erregende Stahlspiralen, die mit Geldern von Gucci gesponsort wurden. Auch Deutschland darf sich freuen, nachdem die Jury das in den Pavillon eingebaute, klaustrophobische Einfamilienhaus von Gregor Schneider zum besten Länderbeitrag gewählt hat. Wie vor ihm schon Hans Haacke oder Gerhard Merz sucht Schneider den Konflikt zwischen dem Raum und dessen national aufgeladener Symbolik. Doch Schneiders Eingriff ist manischer und gleichzeitig subtiler als die Projekte seiner Vorgänger. Wo Haacke den Boden zerbohrte im Kampf gegen „GERMANIA“, ist „Totes Haus ur“ eine mentale Bestandsaufnahme für Bauen, Wohnen und Denken in Deutschland. Bei Schneider kippt die Eigenheimidylle in Horror Vacui um: Jedes noch so normierte Zimmer, jede kahle Ecke im Keller wurden von ihm verändert, Fenster wurden verspachtelt, Wände umgesetzt. Am Ende denkt man in Schneiders Bau an Kafkas Irrgänge durch die Verwaltungswelt, während sich die kargen und klebrigen Interieurs auch gut in einem Film von David Lynch machen würden.

Andere Länder haben andere Konflikte auszutragen. In Belgien präsentiert sich Luc Tuymans als Historienmaler, wenn er mit seiner Gemäldeserie der Ermordung von Lumumba nachgeht und der Frage, wie weit der belgische König Boudoin und sein Geheimdienst die Aktion im Kongo mit geplant hatten. Nachdem im Pavillon von Österreich seit Jahren Peter Weibel Hightech und Informationsgesellschaft mit Kunst bebildert hatte, ist die Künstlergruppe Gelatine wieder in der Natur angekommen, die jetzt als Fake-Biotop das Gelände überflutet. Bei Japan ist derweil die Korporatisierung so weit fortgeschritten, dass Masako Nakamura den Raum mit gelben Leuchtbuchstaben von McDonald’s ausgeschmückt hat. Wer darin eine subversive Geste vermutet, irrt. Der Konzern hat Nakamura nicht nur Rechte an dem Markenzeichen überlassen, sondern die Installation gleich mitfinanziert. Nach der Schlappe von Seattle schlägt das Fastfood-Imperium nun sanft im Kunstbetrieb zurück.

Aber warum sollte ausgerechnet die Biennale in Venedig als Plattform irgendeiner Gegenöffentlichkeit dienen? Die Neunzigerjahre, in denen Kunst verstärkt auf soziale Belange, auf kollektives Arbeiten und Fragen nach gesellschaftlicher Teilhabe setzte, sind wie ausradiert. Vereinzelt findet sich zwar ein leises Aufbegehren am Rande des Neoliberalismus, so wie bei Matthieu Laurette, der die Logik des Markts unterläuft, indem er von ihm gekaufte Waren nach einmaligem Benutzen umtauscht. Die als „Streetmarket“ komplett nachgebaute Slumkulisse von Barry McGee, Stephen Powers und Todd James spielt dagegen mit einem Bild vom Elend, das man auch ohne Kunst recht gut kennt. Zur Eröffnung hatte das US-Trio zur Steigerung der Wirklichkeit zwei Afrikaner angestellt, die im Hüttendorf gefälschte Prada-Handtaschen anbieten durften. Das ist kein Zynismus und keine Dummheit vor dem Kapital, sondern nur ein ganz großes Missverständnis: Der anarchische Handel von unten wirkt höchstens wie ein melancholisches Erinnerungsstück an rechtsfreie Räume, aber er attackiert bestimmt nicht die New Economy.

Ob und wie das Spiel mit Symbolen des Wirtschaftslebens, die beuyssche Parabel von Kunst = Kapital funktioniert, weiß Szeemann vermutlich am besten. Immerhin ist er Berater für Sammlungen in der Schweiz. So hatte er vor zwei Jahren durchaus begeistert dutzendweise chinesische Künstler in Venedig gezeigt, deren Arbeiten nach der Biennale an Museen und Privatiers in der Schweiz gingen. Nun ist der Boom vorbei, aus dem Land mit einer Milliarde Einwohner finden sich nur noch vier Namen auf der Künstlerliste. Da ist etwa Chen Zhen, für den eine Hommage organisiert wurde, weil er im letzten Jahr gestorben ist. Und da ist Xiao Yu, der Köpfe von Kinderföten an Rattenkörper näht – angeblich als Statement zur Gendebatte, wie es diplomatisch dahingemogelt im Katalog heißt. Dabei hätte ein bisschen mehr Nachdenken womöglich zu der Erkenntnis geführt, dass Klonen nichts mit Frankensteins Labor gemeinsam hat und dass auch die Bedrohung durch Mutationen aus dem Reagenzglas ziemlich weit hinter der hotter than hotten Diskussion der Biotechnologie zurückbleibt, in der längst über künstlich erzeugte Materiallager und Copyrightfragen bei der Patentierung des Menschen gestritten wird.

Natürlich ist Xiaos Arbeit vorrangig als satter Schocker einkalkuliert, zumal die Deformationen gleich am Anfang der Ausstellung die Marschroute vorgeben: viel Körper, nackt oder im Schlamm; viel Sex, mal mit Gewalt und mal aus Fun. Zugleich will Szeemann mit seinem „Plateau“, auf dem sich Anthropologie und Unterhaltung mischen, der Idee Herbert Beiers folgen, der schon in den Fünfzigerjahren nach der „Family of Man“ suchte. Was damals als fotografiegestützte Propaganda einer besseren Community mit dem Westen im Zentrum auf den Weg gebracht wurde, ist für den Chef der Biennale jedoch in unendliche Vielheiten zerborsten.

Szeemann nennt das die bisher bloß negativen Auswirkungen der „Globalisierung“, die sich durch die Rückbesinnung auf kulturelle Praktiken zum Positiven wenden ließe. Bei ihm gehören deshalb Rodins „Denker“, hinduistische Liebesgötter und afrikanische Fruchtbarkeitsfiguren zusammen, als übergreifender Genius des schöpferischen Geistes. Man ahnt, dass Szeemann auf seinem „Plateau der Menschheit“ gern auch Rudolf Steiner mit Gilles Deleuze tanzen sehen würde. Trotzdem zeigt die Ausstellung wieder nur individuelle Lebensentwürfe, die sich in seiner Inszenierung nicht vermischen, sondern Künstler für Künstler in lauter Kojen, Nischen und Kabinen reihen.

Fast immer siegt die Obsession im einzelnen Statement: Bei Chris Cunningham führt ein athletisches Paar rektales Tanztheater auf, das der Filmemacher in ein schwer fassbares Dunkel gehüllt hat, aus dem die beiden Körper wie auf Bildern Rembrandts hervorleuchten. „Flex“ ist eine beängstigend direkte Studie der Anatomie, in der jedes Detail sichtbar wird, auch der psychische Druck, der in der Situation auf den Beteiligten lastet.

Zuvor hat man bereits einen depressiv zusammengekauerten Jungen passiert, den Ron Mueck bis zur Ferse hinunter realistisch nachgeformt hat – Echthaar inklusive. Nur die Dimension stimmt nicht, „Untitled (boy)“ ist ein knapp fünf mal fünf Meter großes, auch wieder sehr einsames Kind.

Szeemann mag die Momente, in denen der Betrachter über seine Entdeckungen staunt. Dafür lässt er Francesco Vezzoli für dessen Schrein mit Stickrahmen voll weiblicher Filmstars das Sixtiesmodel Veruschka von Lehndorf zur Performance einladen. Dafür holt er die New Yorker Miniaturvideos von Paul Pfeiffer, in denen die Mannschaften beim Basketball wegretuschiert wurden, sodass jetzt der Ball von unsichtbarer Hand in den Korb geworfen wird. Und er mag auch alles Abwegige: Aus der Schweiz hat er den 1925 geborenen Arnold Odermatt mitgebracht, der als Polizeibeamter über 40 Jahre lang Autounfälle fotografisch dokumentiert hat. Statt aber genau über den Tatort zu informieren, sind die schwarzweißen Aufnahmen eine ungemein schön geformte Auseinandersetzung mit den zerknautschten Objekten. Was Szeemann in dieser Kombination aber nicht gelingt, ist ein Widerhall der Welt als Ganzes, von der er so sehr schwärmt.

Am Ende des Rundgangs steht man vor einem flach auf den Rasen geklebten Labyrinth, das Olaf Nicolai wie in Rätselheften für Kinder entworfen hat. Welchen Gang man nimmt, ist im Grunde egal, und ob man irgendwo ankommt ebenfalls. Es reicht, sich die Knotenpunkte auf der markierten Strecke anzusehen. Sie ähneln denen zwischen Kunst und Leben. Dann trennen sich die Wege.

Bis 4. 11. 2001, VenedigKatalog: 100.000 Lire