„Man darf auch mich beleidigen“

Hart, aber ungerecht: Der Schriftsteller und Kolumnist Maxim Biller über Alltagsethnologie und Polemik, den Unterschied zwischen Snobismus und Zivilisation, über Juden, Türken und Deutsche sowie die Literatur des Fremden in der Fremde

Interview DANIEL BAX

taz: Herr Biller, ist Ihnen Deutschland fremd geworden?

Maxim Biller: Das war eigentlich ein Prozess. Als ich mit zehn Jahren nach Deutschland kam, war ich überzeugt davon, dass alle Menschen von Natur aus gleich sind. Doch in der Schule habe ich sehr schnell begriffen, dass ich für meine Mitschüler anders war – ein Ausländer eben. Und je länger ich hier bin, desto mehr wird mir bewusst, dass ich für die anderen ein Fremder bin. Meine Reaktion ist: Wenn ihr mich mit diesen Augen betrachtet, mache ich das auch mit euch. Das „Deutschbuch“ ist die Quittung dafür. Im Grunde ist es nichts anderes als eine sehr polemische Art, Ethnologie in Deutschland zu betreiben.

Und was ist, Ihrer Meinung nach, typisch deutsch?

Verschiedenes. Da gibt es zum einen Mentalitätsunterschiede . . .

Gibt es?

Die gibt es. Die typischen deutschen Charaktereigenschaften lassen sich im Grunde auf ein Attribut reduzieren: Unsicherheit, Unsouveränität. Nehmen wir Umgangsformen: zu wissen, wie man ein Gespräch mit einem Fremden beginnt. Man fragt einfach: Wie heißt du, was machst du, woher kommst du? Aber die meisten Deutschen brechen bei diesen drei Fragen ja bereits zusammen, weil sie denken, man will ihnen ihre Biografie stehlen. So wie diese Indianer, die denken, wenn man sie fotografiert, wird ihnen ihre Seele entwendet. Das halte ich für furchtbar rückständig, archaisch.

Ist Deutschland nach 1989 deutscher geworden?

Bis 1989 war diese Gesellschaft eine republikanische, die national nicht definiert war. Nach 1989 hat sie begonnen, sich national zu definieren – damit wurde es für mich brisant. Mich verbindet weder mit Novalis noch mit Beethoven etwas. Und speziell die politischen Figuren der deutschen Geschichte, ob das nun ein Herr Brüning oder ein Herr Rathenau ist, sind mir zuwider.

Sie haben es ja leicht. Sie können sagen: Das ist schlicht nicht meine Geschichte.

Natürlich haben es Franzosen oder Italiener einfacher als Deutsche. Aber für jemanden, der heimatlos ist, für den ist das kein Trost. Ich wäre ja froh, ich könnte sagen, ich bin deutsch.

Ich bin auch nicht stolz, Jude zu sein. Ich bin es, weil ich es bin. Und ich rede gerne über die Geschichten meiner Leute, weil ich die kenne, weil das jüdische Geschichten sind oder Geschichten, die ihnen zustießen, weil sie Juden waren. Aber mir wäre es lieber, ich müsste kein Jude sein.

Was macht Sie zum Juden – außer, dass andere Sie so sehen?

Das ist sicher der größte Anteil. Ansonsten: Ich bin schneller als andere. Ich habe Humor – ein Humor, der sich immer am Rande der Beleidigung bewegt, aber keine Beleidigung ist. Man darf das übrigens auch mit mir machen – es macht bloß keiner. Und ich bin vermutlich insofern ein typisch jüdischer Mann, als ich gleich von zwei Frauen groß gezogen worden bin, von meiner Schwester und meiner Mutter. Also: die Schnelligkeit, der Humor, die Wärme.

Man darf aber auch nicht vergessen: Ich bin in der Tschechoslowakei zur Schule gegangen, bis ich zehn war, und spreche bis heute Tschechisch. Meine Eltern kommen aus Russland, mit denen spreche ich bis heute Russisch. Meine Mutter stammt aus Baku in Aserbaidschan, was eine türkisch-islamische Stadt ist, und ihr Vater war Armenier, also Christ. All diese Einflüsse sind auch in mir drin.

Was macht es in Ihren Augen besonders, fremd unter Deutschen zu sein?

Ich glaube, Ausländer oder Angehöriger einer Minderheit zu sein ist in keinem Land der Welt besonders lustig. Was aber in Deutschland besonders ist: Richtiger Rassismus hat sich hier nach dem Krieg nicht so entwickelt wie in anderen Ländern. Aber es gibt hier eine andere Form von Rassismus. Es gibt dieses inständige Flehen: Hör bitte auf, fremd zu sein. Werde doch endlich wie wir, damit wir nicht verunsichert werden. Für jemanden wie mich, der ich sehr bewusst ich selbst bleiben möchte, ist das sehr anstrengend.

Hat sich seit der Vereinigung das Verhältnis zwischen Deutschen und Juden verändert?

Ich kann das nur schwer beurteilen, weil ich heute eigentlich viel weniger in einer jüdischen Umgebung lebe als noch vor zehn Jahren. Meine besten Freunde, die alle Juden sind, sind vor ein paar Jahren nach Israel gegangen.

Warum?

Die wollten sich nicht mehr komisch fühlen. Man fühlt sich komisch in Deutschland. Nicht nur als Ausländer: Ich kenne kein Volk, das so ungern aus dem Urlaub nach Hause kommt wie die Deutschen. Irgendetwas scheint hier ja tatsächlich nicht zu stimmen.

Sie sind kürzlich nach Berlin gezogen – ein Schritt, den zu tun Sie im „Deutschbuch“ noch pauschal von sich weisen. Bereuen Sie es schon?

Ich finde diese Stadt fürchterlich. Sie ist unzivilisiert, hässlich, und das Preußische ist absolut unerträglich. Und es ist langweilig hier. Gerade im Bezirk Mitte, wo ich wohne, sind zigtausende Langweiler, die hergekommen sind, weil sie gehört haben, dass es hier lustig sein soll. Die schauen dann den anderen Langweilern dabei zu, wie sie darauf hoffen, dass hier irgend etwas lustig ist. Berlin ist wirklich eine Schaulustigenstadt.

Was ich am Bezirk Mitte aber am Schlimmsten finde: Hier sind keine Ausländer. Es ist eine absolut ethnisch gesäuberte Gegend, wo nur Kinder von westdeutschen Zahnärzten, Managern und Lehrern in ihren bescheuerten Turnschuhen durch die Gegend laufen und etwas simulieren, von dem sie glauben, dass es Großstadt sei. Die glauben tatsächlich, bloß weil sie sich in diese alten Lounge-Chairs setzen, dann sind sie schon exzentrischer als irgendwelche New Yorker Schwarzen.

Warum sind Sie nicht nach Kreuzberg gezogen?

Das finde ich noch unerträglicher (lacht). Das beste an Kreuzberg sind die selbstbewussten Türken. Die drucksen nicht so eingeschüchtert herum, wie sie es in München-Giesing tun. Aber was habe ich davon? Ich liebe zwar die Türken und würde am liebsten auf der Stelle eine Türkin heiraten oder irgend eine andere Orientalin. Aber weil ich kein Türke bin, komme ich in Kreuzberg nicht wirklich weiter.

Außerdem ist Kreuzberg kaputt. Ich liebe aber das Bürgertum. Und mir ist ausländisches Bürgertum lieber als ausländische Kaputtheit.

Sie sind ein Snob.

Ich glaube, dass es in Deutschland ein großes Missverständnis gibt, was Snobismus angeht. Ich bin in München gerne in ein Lokal gegangen, das Schumann’s. Viele Leute, die es nur dem Namen nach kennen, lassen sich davon einschüchtern, dass dort die Kellner weiße Schürzen tragen und das Essen etwas teurer ist. Schon halten sie das für Snobismus – dabei ist das Schumann’s mit seinen präzisen Umgangsformen und gleichzeitig einer fast anarchischen Liberalität in Deutschland ein Hort der Zivilisation.

Ist München nicht auch enorm provinziell?

Ich würde sagen, ganz Deutschland ist provinziell. Aber München hat eine Anbindung an Mitteleuropa, an Prag, Budapest und Wien. Allerdings war die Stadt in den 80ern mal wesentlich kosmopolitischer als heute. Jetzt sind da nur noch reiche Computertrottel.

Sie schreiben Romane und Zeitungskolumnen. Was unterscheidet Ihre journalistische und Ihre literarische Arbeit?

Als Journalist habe ich eher die Möglichkeit, selbst Show zu machen. Als Schriftsteller bin ich darauf angewiesen, dass man über mich schreibt. Und da passiert es mir immer wieder, dass Kollegen sich an mir rächen für alles Ungemach, das sie mit mir als Journalisten erlebt haben. Hellmuth Karasek und Marcel Reich-Ranicki haben meinen Roman „Die Tochter“ ja praktisch getötet. Bis zu dem Tag, an dem sie den Roman im Literarischen Quartett verrissen haben, lief er sehr gut. Am Tag danach verkaufte sich kein Buch mehr.

Wie haben Sie sonst die Resonanz der Kritik empfunden?

„Die Tochter“ handelt ja vom gleichen Thema wie das „Deutschbuch“ – nämlich von der Frage: Wie fühlt man sich als Fremder in Deutschland. Aber das ist etwas, was nicht verstanden wird, darauf wird mit Abwehr reagiert. Es gab eine Rezension meines Romans in der SZ, worin sich der Autor allen Ernstes über den Roman als einzige, grandiose Deutschlandbeschimpfung aufregte. Der hat auf den Roman reagiert wie auf eine Kolumne von mir.

Empfinden Sie das als symptomatisch?

Vielleicht. Jedenfalls wird alles, was fremd ist, ignoriert. Es gibt in Deutschland eine Literatur, die wirklich von etwas handelt. Literatur von Griechen, von Türken, von Juden. Nehmen wir etwa die jüdische Literatur – Bücher von Autoren wie Barbara Honigmann, Robert Schindel, Dorin Rabinovici, Robert Menasse und mir. Diese Literatur gibt es seit zehn, zwölf Jahren, aber noch nie ist sie in einer großen deutschen Zeitung als Tendenz vorgestellt worden – es gibt allenfalls ein paar akademische Arbeiten darüber. Kaum aber sind auf der Tanzfläche drei Leute mit einem Laptop gesehen worden, gibt es plötzlich Popliteratur. Kaum schreiben drei hübsche Frauen ein paar Erzählungen, wird ein literarisches Fräuleinwunder ausgerufen.

Woran, glauben Sie, liegt das?

Ein Aspekt ist: Man muss als Leser zu einem Buch ja sagen können, im Sinne von: Ja, so sehe ich das auch! Der typische Franz-Kafka-Leser sagt: Ja, auch ich bin ein Opfer der modernen Zivilisation. Ja, auch ich bin ein Verlorener im Dickicht der Bürokratie. Oder der Leser von Christian Kracht sagt: Ja, auch ich hasse dieses Land, aber entkomme kann ich ihm nicht, denn auch ich bin ein deutsches Bürgerkind, das immer nur auf Partys herumhängt und eigentlich keine Identität hat. Wer aber soll ausgerechnet in Deutschland zu meiner Literatur des Fremden in der Fremde ja sagen können?

Ist Literatur nicht universell?

Das halte ich für ein Missverständnis. Das Universelle an Literatur erreicht das Publikum meist erst zwei oder drei Generationen später – wenn man Glück hat. Das Allgemeingültige an so einem wilden Türkenbuch wie „Abschaum“ von Feridun Zaimoglu, das erkennt keiner. Die Leute sehen nur das Besondere an jemandem wie Stuckrad-Barre, weil sie dieses Besondere haargenau so von sich selbst kennen: Unsicherheit, Frechheit, Feigheit und deutsche Kaltschnäuzigkeit.

Wer aber als Autor von einer ihnen fremden Identität erzählt, der hat ein Problem. Das gilt gerade in Deutschland für alles Jüdische. Die deutschen Leser lesen gerne Opfergeschichten, die in einer Zeit spielen, mit der sie nichts mehr zu tun haben. In dem Moment aber, wo sie mit Juden von heute zu tun haben, überfällt sie die Angst, etwas falsch zu machen. Wirklich bemitleidenswert: Sie haben sogar Angst, falsche Gefühle zu haben. Das ist zwar sehr rührend. Aber es hilft der guten Literatur in Deutschland auch nicht weiter.