die jazzkolumne
: Mehr als Fußnoten: Free und Latin Jazz revisited

Die Krallen der Tradition

Auf einmal tauchen sie alle wieder auf: Archie Shepp und Abbey Lincoln, Nina Simone, Gato Barbieri. Diedrich Diederichsen entdeckt den politisch motivierten Jazzkader der Endsechziger als Projektionsfläche für die Suche und Sucht nach Authentizität und reiner Weste wieder. Die New York Times feiert in ihrer Berichterstattung über das Vision Jazz Festival, das nach 70 Konzerten am Donnerstag in der New Yorker Knitting Factory zu Ende ging, die Free-Jazz-Avantgarde – was daraus wurde und davon übrig blieb. Und das Fachblatt Jazz Times featuret Archie Shepp, den Abtrünnigen, in diesem Monat sogar als Titelstory, weil bei Verve kürzlich seine CD „Live in New York“ erschien – und das nach dreißig Quasi-Ex-Patriate-Jahren, in denen Shepp zwar eine Professur in Massachussetts innehält, seine Musik aber fast ausschließlich für kleine japanische und europäische Labels aufnahm. Denn alles, was nicht in den USA stattfindet, findet aus amerikanischer Sicht ja eigentlich gar nicht statt.

Aber taugen solche Typen wie der Saxofonist Archie Shepp, der sich wegen frappierender Ansatzprobleme in den vergangenen Jahren zunehmend aufs Singen verlegen musste, tatsächlich noch als Ersatz und Code für kulturell kompetente Subversion? Doch, doch – zumindest solange er noch behauptet, dass die amerikanische Kultur im Arsch sei, mit Ausnahme dessen allerdings, was von den Schwarzen erfunden wurde.

So etwa vor zehn Jahren war Archie Shepp mit dem Posaunisten Graham Moncur III. und dem Pianisten Dave Burrell in Berlin. Das war schon längst mitten in der Zeit, als Archie Shepp es sich zur Aufgabe gemacht hatte, zur Blues-Tradition der afroamerikanischen Musik vorzudringen. Dass Shepp bei seinen wichtigen Aufnahmen für das Impulse!-Label in den Sechzigerjahren auch mal einen Duke-Ellington-Klassiker in der falschen Tonart gespielt hatte – allerdings, wie wir heute wissen, und im Gegensatz zu wilden Spekulationen zahlreicher Rezensenten über vermeintlich sehr originelle Widerstandscodes, völlig unabsichtlich, weil er es damals einfach nicht besser konnte und wusste –, ist dokumentiert und mittlerweile auch auf CD wieder veröffentlicht. Als Autodidakt sozusagen doppelt authentisch, brachten ihm solche Lücken vor allem auch aus schwarzen Musikerkreisen nicht gerade unbedingten Respekt ein.

Der Verdacht wurde begründet, dass die Jungs mit dem großen neuen Sound machmal noch größere Defizite hatten als erlaubt. In Interviews forderten die zornigen Wilden zwar Respekt für die Erfinder und Erneuerer der schwarzen Musik. Doch dann, hinter der laut und selbstbewusst artikulierten musikalischen Proklamation, schimmerte musikhandwerkliches Versatzstück-Fastfood.

Nun standen die Gestandenen also auf der Quasimodo-Bühne und wollten einen alten Jazzhit spielen, Erroll Garners „Misty“. Shepp kündigt als Solisten dieser Ballade Moncur III. an, der stolz und ernst neben dem Flügel steht. Doch – oh Schreck. Was früher so schön taugte, war auf einmal tabu. Es war nun der Pianist, der offenbar nicht den nötigen Respekt aufbrachte. Eigentlich ein Song, den jeder Jazzstudent in allen Tonarten spielen und improvisieren kann, doch Moncur bricht ab. Ist unzufrieden, beschimpft Burrell und beginnt ein zweites Mal, stoppt wieder und droht mit Streik.

So oder gar nicht sollte es sein, und deshalb sollte Burrell nicht mitspielen dürfen. Shepp, als Leader der Band, schob Burrell dann kurzerhand vom Hocker und begleitete Moncur eher prankig als seriös, eher klotzig als spitz selbst am Klavier. Dabei waren es nur Floskeln schwarzer Selbstinszenierung, die hier wirksam wurden. Das Stück wurde fad und holprig zu Ende gebracht, nichts weiter, und der mobile Plattenverkäufer an der Kasse kommentierte das Konzert mit Verweisen auf die gute alte Zeit. Auf „Fire Music“ und „Attica Blues“.

Die Falle hatte zugeschnappt. Die Tradition, die man nach dem New Thing so gern erkunden wollte, hatte ihre Krallen gezeigt.

Im Rahmen des Verizon Music Festivals, das vom 7. August bis 11. August in New York stattfindet, sind Shepp und Moncur III. nun angekündigt, wie auch die große afroamerikanische Sängerin und Komponistin Abbey Lincoln, die vor vierzig Jahren mit „We Insist! Max Roach’s Freedom Now Suite“ als politische Sängerin abgestempelt wurde und deren Platten noch heute in Europa produziert werden. In der Lobby ihrer New Yorker Wohnung hängt eine Urkunde, die sie als Fürsprecherin für afroamerikanische Belange ausweist. Im Schatten des amerikanischen Jazzbiz hat Abbey Lincoln ihr Leben in vielen stolzen Songs dokumentiert, zerbrechlich, streng und wahrhaftig. Praktisch als Ergänzung zur zehnteiligen Filmreihe „Jazz“, die Anfang des Jahres im amerikanischen TV lief, will das Verizon Music Festival nun jene Musik aufführen, die in den vergangenen vierzig Jahren erfunden wurde und die der Regisseur Ken Burns in seinen Filmen zur Fußnote der Jazzgeschichte erklären ließ.

Für den spanischen Regisseur Fernando Trueba zählt die Improvisation im Jazz zu den größten Wundern überhaupt. In seinem neuen Film „Calle 54“ beobachtet er seine ganz persönlichen Stars des Latin Jazz dabei, wie sie wunderschöne Musik spielen. Der Soundtrack zu „Calle 54“ enthält die spannendsten Aufnahmen des Genres seit langer Zeit – darunter auch ein triumphales Comeback des argentinischen Tenorsaxofonisten Gato Barbieri, der vor 30 Jahren wichtige Grundsteine des radikalen und politisch inspirierten Latin Jazz Sounds legte. Hier ist er nun mit einer Neueinspielung von „Bolivia“ in Höchstform, er beschwört die Spirits der Musik, als wolle er die Geheimnisse des Wunders preisgeben. Beim JVC-Jazzfestival, das am vergangenen Sonntag in New York begann, zählte Barbieri mit „Calle 54“ und ein Carnegie-Hall-Konzert der großen tragischen Sängerin des afroamerikanischen Widerstands, Nina Simone, zu den wichtigen Acts.

Die improvisierte Musik hat in den vergangenen vierzig Jahren zahlreiche Spuren hinterlassen. Nicht nur die Gesichter von Shepp und Lincoln sind aber auch von ungesundem Lebenswandel und Schicksalsschlägen gezeichnet. Die Zitate, derer sie sich gern bedienen, sind meist nur selten so spaßig gemeint, wie sie manchmal klingen. Der Preis dafür, authentisch zu bleiben, ist hoch.

CHRISTIAN BROECKING