jazzkolumne
: Neue Musik im März: Daten, dated, darstellen

Ereignisstrudel galore

Das Stück knattert durch, sagt Wolfgang Rihm über seine im November 2001 in Basel uraufgeführte Komposition „Jagden und Formen“. Zu Rihms 50. Geburtstag am 13. März erschien nun eine endgültige Fassung in der Einspielung des durch seine Interpretationen zeitgenössischer Musik immens einflussreichen Ensemble Modern. Die Entstehungsgeschichte ist abenteuerlich, bereits seit 1996 ist das heute einstündige Werk in progress.

Zunächst gab es vereinzelte Auftragskompositionen wie „Gejagte Form“, „Verborgene Form“ und „Gedrängte Form“. Im November 1999 kam es dann in Paris zu einer ersten größeren Aufführung, die Rihm zunächst noch mit dem Zusatz „Zustand“ betitelte, in Frankfurt wurde vor gut einem Jahr der „Zustand X/2000“ gespielt. Mit dem ständig wachsenden Werk verfolgt Rihm die Idee, einen „Ereignisstrudel“ über hart geschnittenen hohen Geschwindigkeiten“ zu komponieren. Und entsprechend rasant und abrupt geht es zu in „Jagden und Formen“, als laufe die Zeit davon.

„Bewegen und bewegt sein“, kommentiert Rihm fast cool, der das Ensemble Modern mit dieser Komposition durch seine Vorstellung von Neuer Musik treibt. Im Unterschied etwa zu den Stücken „Two“ und „Seven“ von John Cage, die das Ensemble Modern unlängst in der Frankfurter Kunsthalle Schirn aufführte, wirken Rihms „Jagden und Formen“ gehetzt und erbarmungslos. An Pause und Stille nicht zu denken – es knattert wild und exakt.

Ähnlich erbarmungslos wie die Gitarre von Caspar Brötzmann beim „festival neue musik pol 7“ in Frankfurt. „Sorry“, sagt da eine Stimme in der „station“, der Galerie des Künstlerhauses Mousonturm. Die Entschuldigungsbekundungen, die unaufhörlich in englischer Sprache aus den Lautsprechern dröhnen, haben nichts mit der Musik zu tun, die nebenan auf der Studiobühne klirrt und kracht. Die Installation von Philip Napier, „Gauge“, die noch bis Sonntag im Frankfurter Mousonturm gezeigt wird, nimmt unmittelbar Bezug auf den „Bloody Sunday“, den 30. Januar vor 30 Jahren, als britische Soldaten in Derry 14 unbewaffnete Demonstranten erschossen.

Napier, der 1989 an der Belfaster Universität sein Kunststudium abschloss, hat 14 Lautsprecher installiert, die an so genannten Federwaagen von der Decke hängen. Gemessen wird nun, wie der Schalldruck das Gewicht der Lautsprecher gegenüber den Waagen erhöht. Die Entschuldigung wiegt, je nachdem vor welcher Waage man gerade steht, mal 18, mal 218 oder 413 Gramm. Im Raum der Studiobühne hat sich ein eigenartiger Geruch ausgebreitet. Am Samstagabend gegen 22.35 Uhr betreten Caspar Brötzmann und der Schlagzeuger Michael Wertmüller die improvisierte Bühne, im Publikum mostly Männer im Alter zwischen 30 und 40.

Es beginnt der zweite Set des Abends und der abschließende der dreitägigen New-Music-Reihe. Zuvor hatten der Gitarrist Erhard Hirt und der Saxofonist John Butcher zum Teil ziemlich verrückte Klänge und ein Gefühl für das Neue produziert, das – wie sich gerade bei solch gepflegten Reihen immer wieder zeigt – sehr subjektiv und flüchtig bleibt. Hirt ist ein Electronicfreak, der das Gitarrengriffbrett als Tastatur zur Klangerzeugung nutzt. Butcher kommentiert Hirts sensible Soundcollagen mal so, als ob im Keller was nicht stimmt, dann, als hätte Pharoah Sanders gerade im Nebenzimmer Platz genommen, oder halt wie das leise Stöhnen der Entspannung. Und sehr schnell wird klar, hier geht es nicht mehr um das Fragment. Die Zeit des Unfertigen, der eben mal ins Geschehen geworfenen Klänge einschließlich der davon überwältigten und manchmal ebenso unfertigen Akteure ist passé.

Butcher kultiviert klassisches Brit-New-Music-Design, mehrmals gewaschenes T-Shirt über Hose, Hirt trägt UPS-Look mit Bart. Sein virtuelles Studio passt in einen handlichen Koffer, die Welt der elektronischen Sounds mag überschaubarer geworden sein, aber nicht durchschaubarer. Diese Musik ist neu in dem Sinne, dass sie die Klischees, die Brötzmann bedient, gar nicht erst zitiert.

Nach der Pause, während der man das Bier zwar durch die Napier-Installation mitführen darf, nicht aber in den fensterlosen Bühnenraum, bringt einer der „Pol 7“-Initiatoren, Rüdiger Carl, Brötzmann und Wertmüller auf die Bühne. Carl, der Akkordeonist, der mit Martin Kippenberger und Albert Oehlen 1986 das Calma-Trio war, „Jazz zum Fixsen“ der Titel ihres Buches, macht bei „Pol 7“ auch den Moderator und glänzt mit einer Anekdote über Gadamer. Doch bei Brötzmann hört der Spaß schlagartig auf. Zur imaginären Begrüßung noch die Kippe im Maul, das schwarze Hemd weit aufgeknöpft, das Amulett im Ausschnitt taumelnd, ein kurzer Blick zum Marshall-Turm, und der Raum versinkt im Krach. Das, was früher mal Punk war, schimmert durch als das, was es jetzt ist – irgendwie zu Kunst gewordener Soundmüll von vorgestern, dated, very dated.

Neu daran ist, dass es noch funktioniert. Schwer zu sagen, ob die Leute, die rausrennen, die Flucht ergreifen oder nur um Sauerstoff ringen. So verbraucht muffelt es mittlerweile, Zeit zu gehen. Von draußen klingen Brötzmann und Wertmüller laut und fordernd wie ein Retourticket.

Dem Jazz tue ein gutes Maß an Aggressivität gut, sagt der Pianist Joachim Kühn, der am Freitag 58 wurde und mit seiner CD „Bach now!“ eines der spannendsten und gewagtesten New-Music-Projekte auf den Weg gebracht hat, auch wenn Heroen und Sensationsmacher der Neuen Musik samt ihrem Novitätenmarketing davon wohl nur peripher Notiz nehmen werden. Auf Anregung des Leipziger Jazzfestivalmachers Bert Noglik, der Kühn vor sechs Jahren mit Ornette Coleman zusammenbrachte, hat der führende Jazzpianist der europäischen Szene jetzt mit dem 80-köpfigen Thomanerchor aufgenommen. Für Kühn, der selbst aus Leipzig stammt und in der Thomaskirche konfirmiert wurde, eröffnete das Zusammentreffen mit dem Thomaskantor Georg Christoph Biller eine völlig neue Erfahrung. Die Klischees von „Play Bach“ und Pop-Barock meidet Kühn, anders auch als das eher additive Vorgehen, wie man es von den Aufnahmen und Konzerten Jan Garbareks mit dem Hilliard Ensemble her kennt, kommentiert Kühn mit seinen Jazz-Soli den Chorgesang nicht nur, sondern integriert sein Spiel quasi als instrumentale Stimme in diese sehr neue Bach-Interpretation.

CHRISTIAN BROECKING