die jazzkolumne
: Jazz Talk: Notation, Improvisation und Politik

Freiheit nach Mingus

Für den Saxofonisten Sonny Rollins ist die Sache ganz klar: „Das wichtigste Element im Jazz ist die spontane Kreation von Sounds, die kreative Improvisation.“ Theodor W. Adorno hat gerade das immer heruntergemacht: „Die Improvisation, auf welche die Jazzjournalisten so viel sich zugute tun, ist nicht nur in Wahrheit vielfach vorprobiert, sondern unterm Zwang des Schemas vorweg bescheidensten Umfangs“, sagte er 1961. Im Verhältnis von Ernster Musik und Jazz wurden die notierte Komposition und die spontane Improvisation zum Widerspruchspaar.

Neben Duke Ellington gilt Charles Mingus, der in diesem Monat 80 Jahre alt geworden wäre, heute zwar als bedeutendster Komponist der Jazzgeschichte, doch überschattet wird dies nach wie vor von dem Umstand, dass in dem Verhältnis von Improvisation und Komposition noch ein anderer Gegensatz mitschwingt – der zwischen Weiß und Schwarz.

Als Wynton Marsalis anlässlich der Jahrhundertwende zur Zukunft des Jazz befragt wurde, nannte er Greg Osby, Marcus Roberts und Danilo Perez in einem Atemzug, prophezeite das Ende der Jamsessions und dass in Zukunft die Präsentation und Komposition der Musik mehr Bedeutung haben wird. Die Zeit der Soloabfolgen sei abgelaufen – eine langweilige und allzu berechenbare Art, Musik darzustellen, sagte er damals.

Als fatales Missverständnis bezeichnete er nun kürzlich, dies als Abgesang auf die Improvisation im Jazz zu lesen. Die tradierten Improvisationscodes bilden die Grundlage des jeweiligen Personalstils eines Jazzmusikers, sie sind die Basis. Der amerikanische Komponist Gunther Schuller bezeichnet Marsalis als afroamerikanischen Intellektuellen und seine Haltung als sehr frei, was das Verhältnis der Improvisation zum Head eines Stückes, dem notierten Kompositionsfragment sozusagen, betrifft. Schuller, der wie Marsalis mit dem Werk von Mingus sehr vertraut ist, behauptet nun, dass die Komposition im Jazz immer wichtiger geworden sei, sie habe die Bedeutung der Improvisation, die seiner Meinung nach allzu oft aus berechenbaren Soli bestand, ersetzt. Im Gegensatz zu Marsalis schlägt Schuller heute vor, eine „Gleichheit“ zwischen Komponist und Improvisator anzustreben wie der Trompeter Dave Douglas auf seiner gerade erscheinenden CD „The Infinite“, der seine Improvisationen konsequent auf der Komposition aufbaue.

Improvisation sei wesentlich durch das Wissen um Ursache und Wirkung festgelegt, fügt der afroamerikanische Saxofonist Wayne Shorter hinzu, der in den Sechzigerjahren sehr einflussreiche Kompositionen für das Miles Davis Quintet geschrieben hat. Die Improvisation habe wenig mit Zufall zu tun und unterscheide sich im Wesen nicht von einem notierten Werk, weil es der individuelle Ausdruck ein und desselben Menschen bleibe. Die wesentlichen Entscheidungen würden im Prozess des Entstehens eines Stückes erst getroffen.

Für den schwarzamerikanischen Saxofonisten und Free Thing Mentor der Siebzigerjahre, Sam Rivers, ist die Vielseitigkeit musikalischer Erfahrungen das Geheimnis eines guten Improvisators. Er hat mit T-Bone Walker, Miles Davis und Dizzy Gillespie gespielt. Nach einer Tour mit Cecil Taylor eröffnete er 1970 in New York sein Rivbea-Studio, das zu einem wichtigen Zentrum für improvisierte Musik wurde. Rivers thematisiert einen dritten – quasi jazzinternen – Widerspruch im Verhältnis von Komposition und Improvisation, der mit dem Free Jazz aufkam, den zwischen Original und Fake. Im Free Thing ist es für die Hörer sehr schwer geworden, zwischen Improvisation und Komposition zu unterscheiden. Im traditionellen Jazz liege der Unterschied dagegen klar auf der Hand: Bebop zu spielen sei ein äußerst komplizierter Prozess, wesentlich schwieriger als das Free Thing, sagt Rivers. Das Problem sei nun gewesen, dass Bebopper davon ausgingen, dass die Free-Player nichts können, während die wiederum meinten, dass man von Bebop keine Ahnung zu haben braucht. „Ich hatte mal eine Band mit Musikern, die keine Noten lesen konnten. Also musste ich meine Komposition in Worte übersetzen. Das war entsetzlich stümperhaft. Ich mag Musiker, die Blues und Bebop spielen, Noten lesen und free spielen können. Meine Kompositionen notiere ich im klassischen Sinne als Noten. Aber ich bestehe nicht auf ausufernden Proben. Mit Cecil Taylor haben wir während der Proben manchmal eine Phrase bis zu fünfzigmal wiederholt. Das verlange ich nicht.“

Die Improvisation ist im Wesentlichen ein politisches Statement des schwarzen Jazzmusikers geblieben, das im krassen Gegensatz zum hierarchischen Verhältnis von Komponist und Interpret in der so genannten Klassik stehe, sagt der afroamerikanische Schlagzeuger Max Roach: „Als Mingus und ich eine Aufnahme mit Duke Ellington machten, ‚Money Jungle‘, gab er uns nur einen knappen Entwurf und somit die Möglichkeit, etwas zum Stück beizusteuern. Als Dizzy Gillespie mich anrief und sagte: ‚Max, ich möchte, dass du mit Charlie Parker, Bud Powell, Charlie Mingus und mir spielst‘, wurde erwartet, dass ich etwas Eigenes zum musikalischen Thema hinzufüge. Das verstehe ich unter einem Kollektiv. Es steht nicht bereits alles schon geschrieben, man kommt nicht nur zusammen, um bereits Fixiertes zu proben – wir kreieren die Musik im Prozess des Spielens!

An der Uni arbeitet der afroamerikanische Posaunist und Komponist George Lewis als Professor für Critical Studies an der University of California in San Diego in einem Umfeld, wo man die schriftlich fixierte Musik als das Normale betrachtet, während die Improvisation als große Ausnahme und eigentlich als etwas Fremdes behandelt wird. „Wenn ich dann – sozusagen im wirklichen Leben – auf Improvisatoren wie Alexander von Schlippenbach, Aki Takase oder Paul Lovens treffe, sehe ich, wie wichtig diese Haltung für die zeitgenössische Musik heute ist. Diese Menschen haben ihr Leben der Improvisation gewidmet. Darin geht es vor allem um die Analyse von und das Antworten auf Bedingungen.“ Lewis geht jedoch davon aus, dass der Hauptwiderspruch – Notation/Improvisation = Europa/Afroamerika – heute aufgehoben ist, soweit es die folgenschwere Symbolträchtigkeit und Wertigkeit dieser Kategorisierung betrifft: „Ich bin heute frei, mich für oder gegen Notation oder Improvisation zu entscheiden. Wenn ich will, mixe ich beides zusammen.“

CHRISTIAN BROECKING