Deutsch für Anfänger

Neue Vokabeln für eine normale Nation? Selten kamen sich Auschwitz und der Kalauer so nah wie beim gemütlichen Beisammensein von Martin Walser und Gerhard Schröder am 8. Mai in Berlin

von PATRIK SCHWARZ

Walser: Wir haben doch alle … DDR / BRD! In der Olympiade haben wir doch immer die Medaillen zusammengezählt und immer gemerkt, dass Deutschland-Deutschland immer die meisten Medaillen hatte. Das waren doch nicht zwei Länder. Jetzt können Sie sagen, das war nur Sport …

Schröder: Nein, nein, das würde ich …

Walser: Also!

Schröder: Ich habe nur Zweifel, ob alle die Medaillen zusammengezählt haben. Da bin ich mir nicht so sicher, Herr Walser, wenn ich das mal sagen darf. Oder ob da nicht auch so was wie Konkurrenz …

Walser: Haben Sie nicht die Medaillen zusammengezählt?

Schröder: Ich habe selten Medaillen zusammengezählt, weil ich schon damals wenig Zeit zum Gucken hatte. Das ist in Ihrem Beruf natürlich anders.

Publikum: (Gelächter)

Schröder: Es hat dort auch Konkurrenz gegeben. Oder denken Sie an das 1:0 von Sparwasser in der Fußballweltmeisterschaft, 1982 war’s, glaub ich …

Moderator (ostdeutsch): Herr Schröder! Das war am 20. Juni 1974!

Publikum: (Trubel)

Die Störung war kurz, höflich und kam erst, als sie ihre Reden schon gehalten hatten, der Großkanzler und der Großpatriot.

Martin Walser hatte gerade die „Schicksalsgenossenschaft der deutschen Nation“ ausgerufen. Gerhard Schröder hatte vorgelesen, was der Großchronist Heinrich August Winkler ihm aufgeschrieben hatte, ergänzt um die artistische Eigenleistung eines Fußballwitzes zum Verfassungspatriotismus. („Ich kann mir keinen deutschen Patriotismus vorstellen, der nicht die Liebe zu unserer freiheitlichen Verfassung in den Mittelpunkt stellt. Aber, Hand aufs Herz: Wenn die deutsche Nationalelf Fußball spielt, dann drücke ich den Deutschen nicht deshalb die Daumen, weil wir so ein wunderbares Grundgesetz haben.“)

Da erhob sich, in Gestalt eines älteren Herrn in der zweiten Reihe, die einzige Störung des Abends. Aus Israel sei er, und ob er denn zu Auschwitz eine Frage stellen dürfe. Ach, sagte der Kanzler gleich, und auch der Moderator reckte sich, das gehe nun wirklich nicht, das möge man bitte verstehen, sonst wolle ja jeder eine Frage stellen.

Es war der echteste Moment des Abends. Es war deutsche Normalität, wie Schröder sie lebt – und die beste Illustration für sein Diktum, „natürlich ist Deutschland ein normales Land – und das muss man nicht missverstehen, wenn man es nicht missverstehen will“.

Der Kanzler und der Dichter saßen bereits in roten Lederfauteuils und waren zu dem übergegangen, was sonst gern „der gemütliche Teil des Abends“ heißt, und im Berliner Willy-Brandt-Haus den Titel trug „Gespräch über Nation, Patriotismus, Demokratische Kultur.“ Sie waren gerade aufs Schönste in die Unterhaltung über Auschwitz und die deutsche Schuld vertieft, dabei wollten sie sich auch von einem Juden nicht stören lassen.

Natürlich wurde der Fragesteller nicht zurückgewiesen, weil er Jude war. Seine Frage passte nur gerade nicht, also wurde er abgebügelt wie jeder andere auch. So sieht der Schröder’sche Geschichtspragmatismus aus – ganz unverkrampft, ganz freundlich, aber mit einer Botschaft: Wegen der deutschen Vergangenheit werden keine Extrawürste mehr gebraten.

Man kann in Schröders Geschichts-Geschäftsmäßigkeit auch einen Vorzug sehen, die Loslösung von einer allzu reflexhaften Fixierung auf das Dritte Reich. Man kann ihn verteidigen mit dem Hinweis, dass er als Nachkriegskind längst in sein Deutschlandbild übernommen hat, was die Generation Walser noch mühsam rum und rum dreht: den unverstellten Blick auf deutsche Schuld. „Es ist Teil unserer Normalität, sich zu erinnern und zu verarbeiten, was sich mit dem Holocaust verbindet“, sagte Schröder – während Walser sich in seinem „Geschichtsgefühl“ verlor, das er gegenüber den Ostdeutschen gar zum Superlativ eines „Geschichtsmitgefühls“ steigerte, schließlich seien sie unverschuldet Opfer der deutschen Teilung geworden.

Doch so frei sich Schröder von der Vergangenheit machte, so wenig wusste er mit dieser Freiheit anzufangen. Er scheiterte daran, „das normale Deutschland“, das er gerne verkörpern würde, auf einen Begriff zu bringen. Walser war da keine Hilfe. Die beiden absolvierten auf offener Bühne einen Sprachtest „Deutsch für Anfänger“. Mühsam erprobten sie neue Vokabeln für eine neue, womöglich normale Nation. Gerhard Schröder landete dabei letztlich immer beim Sport und beim Glück, im Urlaub plötzlich auf Deutsche zu stoßen („Da freut man sich!“). Walser wiederum stellte einmal mehr unter Beweis, wie verkehrt sein Pop-Image als Auschwitz-Verdränger ist. Weit davon entfernt, Auschwitz vergessen machen zu wollen, zelebrierte er es als edelste Qual seines Deutschseins: „Seit Auschwitz ist kein Tag vergangen – das gilt bis heute.“ Was von der Begegnung zwischen Schröder und Walser überliefernswert ist, hat zumeist Kalauerqualität, nicht nur beim Medaillensammeln zu Olympia. Der Kanzler hat damit sein Ziel erreicht – er hat über Nation und Patriotismus geredet, ohne etwas zu sagen.