Ein Leben für die Lounge

Seit ihn die Pop-Generation entdeckt hat, zählt der Komponist Lalo Schifrin zu ihren Säulenheiligen. Der Musiker selbst bewegt sich indes lieber zwischen Jazz und Sinfonien. Heute wird er 70 Jahre alt

Sechsmal war er für den Oscar nominiert. Bekommen hat er ihn noch nicht. Bislang.

von CHRISTOPH BRAUN

Der ganz in Schwarz gewandete Mann mit den höflichen Manieren hat alle Zeit der Welt. Er sitzt im Restaurant des Südthüringischen Staatstheaters in Meiningen und stopft sich seine Pfeife. Nicht ein einziges Mal an diesem Tag blickt er auf die Uhr – und das obwohl er am Abend das Tschechische National-Sinfonieorchester dirigieren soll, nebst einem Jazz-Trio. Das Konzert war die einzige Möglichkeit, Schifrin, der heute 70 Jahre alt wird, live in Europa zu erleben. „Pfeifenmacher wählen die besten Wurzeln in den besten Regionen aus“, sagt er gemächlich. „Das erinnert mich an meine Arbeit: Mach eine Sache zu einer Zeit und arbeite. Arbeite daran, bis die Sache Gestalt annimmt.“

Im Leben des Lalo Schifrin hat schon so einiges Gestalt angenommen. Seit er 1958 nach New York ging, um in der Band von Dizzy Gillespie Piano zu spielen, hat er über einhundert Kompositionen für Film und TV verfasst, dazu kommen zahlreiche Jazz-Alben und sinfonische Auftragsarbeiten. Seit gut 30 Jahren lebt er in Los Angeles, in Beverly Hills. Einen Stern auf dem Walk of Fame hat man ihm einbetoniert und ihm einige Grammys gereicht, für den Oscar war er sechsmal nominiert. Bekommen hat er ihn allerdings nie. Etwas Enttäuschung schwingt deswegen schon mit, wenn Schifrin sagt: „Bei der Nominierung stimmen Komponisten über die besten fünf Kompositionen des Jahres ab: Das bedeutet mir etwas. Nach der Nominierung entscheiden 3.000 Leute darüber, wer den Oscar bekommt, fast alle davon Schauspieler und Schauspielerinnen. Da zählen eher weit verbreitete Meinungen.“

Als Mann im Hintergrund war Schifrin bislang offenbar zu wenig konsensfähig. Doch inzwischen könnte es doch noch etwas werden mit dem Oscar, vielleicht für sein Lebenswerk. Denn ohne viel eigenes Zutun ist Schifrin im letzten Jahrzehnt zu einem der Säulenheiligen der heutigen Popmusik aufgestiegen. Zunächst entdeckte eine Jugend, die sich Backenbärte wachsen oder Stereo-Zöpfe binden ließ und auch Pfeiferauchen wieder schick fand, Lalo Schifrin für sich: Die Soundtracks, aber auch Schifrins Latin-Jazz- und Exotica-Platten wurden unter Easy Listening subsumiert. Sein Stil prägt nun, ganz ironiefrei, den Lounge-Sound von heute. Wo die Hi Hat daddelt wie im Jazz, der Bass grummelt wie im Dub und die Bass Drum gerade durchläuft wie im House, da tauchen sie ständig auf: die Streicher, Flöten oder Bassläufe aus Schifrins kaum noch zu überblickendem Opus. Doch auch in HipHop, Drum & Bass und Electronica begegnet man Samples von Schifrin: Allein an seiner berühmtesten Komposition, dem „Mission: Impossible“-Thema, haben sich bereits A Tribe Called Quest, Cypress Hill, Madonna und Portishead bedient, eben erst wurde sein „Bullit“-Thema vom Elektronik-Team The Black Dog neu abgemischt.

Das Treiben der „jungen Leute“ schmeichelt Schifrin. „Es ist eine Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart“, sagt er: Schließlich hat er in seiner Pariser Zeit, als der gebürtige Argentinier bei Oliver Messiaen studierte, die Entwicklung der Musique concrète vor Ort miterlebt. Deren Praxis habe das Sampling bereits vorweggenommen: „Sie verwendeten Magnetbänder. Damit konnten sie aus dem Öffnen und Schließen einer Tür ganze Kompositionen schaffen“, sagt er und formt dabei mit seiner weichen, dunklen Stimme federleichte Melodien. Lautmalerisch beschreibt er auch eines seiner Werke, das bislang noch unentdeckt geblieben ist: den Soundtrack zu einem Dokumentarfilm über Insekten, „The Hellstrom Chronicle“. „Zum Beispiel gibt es einen Kampf zwischen roten und schwarzen Ameisen. Ich lasse die Streicher mit Trommelbesen spielen: dig dig dig dig dig. Dann treffen die Ameisen aufeinander, und die Bläser tönen massiv: Brrrrm...ratazuck! Das ergibt einen unglaublichen Effekt“, imitiert er die Geräusche. Der Film wurde in den frühen Achtzigerjahren gedreht, die Soundtrackrechte aber verkauft. Zurzeit kämpft Schifrin darum, die Rechte an seiner Komposition zurückzuerlangen: Dann wird er sie veröffentlichen. Und dann werden wieder Legionen von DJs und Remix-Produzenten eine neue Quelle für ihre Samples haben.

Schon jetzt sind die Recyclingpraktiken im Pop für Schifrin finanziell höchst einträglich, an seinen Lizenzen verdient er viel Geld. Doch für die Details, für die rechtlichen Aspekte von illegalen Mash-ups und den Vertrieb über Peer-to-Peer-Netzwerke interessiert er sich nicht: Für Urheberfragen hat Schifrin Anwälte, warum also soll er sich um derartig Zeit raubende Sesselthemen kümmern. Schließlich hat er genug zu tun als Dirigent, Komponist, Arrangeur und Pianist oder kurz: als „Musicmaker“, wie er sich selbst bezeichnet. Darin, nicht nur als Ideengeber, wäre er gern Vorbild: „Ich möchte die jungen Leute aber auch dazu ermutigen, ihre eigenen Schlagzeug- und Bassfiguren zu schaffen. Es ist ja fast parasitär, was sie machen. Warum macht man nicht das Ganze allein? Das wäre doch viel kreativer“, befindet er altväterlich.

Als klassisch ausgebildeter Autoren-Komponist bewegt er sich zwischen Filmmusik, sinfonischer Musik und leichtem Jazz und transzendiert dabei die Grenzen zwischen E- und U-Musik. Seit 1993 arbeitet Schifrin an Arrangements, in denen Sinfonieorchester mit kleinen Jazzbesetzungen kommunizieren. Das Selbstverständnis als Entertainer, das in seinem Ansatz mitswingt, zeigt sich insbesondere in Schifrins aktueller Veröffentlichungsserie „Jazz Meets The Symphony“, und so ist auch der Konzertabend in Meinigen betitelt. Medleys sowie musikalische Hommagen wie „Bach to the Blues“ oder „Portrait of Louis Armstrong“ dominieren das Programm und lassen darauf schließen, dass es Schifrin um Respekt gebietende Rückschau wie um pure Unterhaltung geht. Vom Pult aus erzählt der kleine Mann, leicht eingesunken, unzählige Anekdötchen, um die Bedeutung der von ihm gewürdigten Komponisten zu unterstreichen, und wackelt immer wieder ans Piano, um ein Solo zu spielen.

Zu seinem Konzert gefunden hat ein sehr heterogenes Publikum: die Jugend der Stadt, in Begleitung ihrer vierzig- bis fünfzigjährigen Eltern, dazu der ein oder andere Jazzfan in Schwarz und mit Brille, der bei jeder neuen Melodie im Duke-Ellington-Medley in ein freudiges „Woo!“ ausbricht und angestrengt kopfnickend mitschnippt. Sie alle lassen sich im Laufe des Abends begeistern von Schifrins schläfriger Lässigkeit, zu der sich auf der Rampe ein schlitzohriger Witz gesellt.

Mag Schifrin mit „Jazz Meets the Symphony“ auch an seiner Klassikerwerdung arbeiten, abgeschlossen ist sein Spätwerk bei weitem noch nicht. Neun Folgen möchte Schifrin insgesamt veröffentlichen, es fehlen also noch ganze vier Alben.

Obendrein plant Schifrin für den Sommer 2003 eine Konzertreihe mit dem Tschechischen Nationalsinfonieorchester in Prag, zurzeit sitzt er an einer Auftragsarbeit für das Chicago Symphony Orchester. Auch hier fügt er wieder die Welten zusammen, in denen er sich bewegt: „Es ist die Musik für einen Film, der nicht existiert. Ich hoffe, das Publikum macht sich seine eigene Geschichte daraus.“