Träumen Androiden im Kino?

Sie haben die Matrix geändert: Wie die hypermodernen Multiplexkinos den Blick, die Wahrnehmung und die Körperlichkeit des Publikums wie auch die Realität des Films verändert haben. Vom Strukturwandel der cineastischen Öffentlichkeit

von VERONIKA RALL

Über die Multiplexialisierung der Kinolandschaft ist viel geschrieben und spekuliert worden: Man monierte das Overscreening bei gleichzeitiger Verminderung der Diversität, man befürchtete Zuschauerdefizite für die alteingesessenen, kleinen Kinos und konnte ihre Schließung allerorten beobachten. Umgekehrt konstatiert die Filmförderungsanstalt (FFA) in ihrer Studie zum „Kinobesucher 2000“ im Vergleich zum Vorjahr ein Plus an Kinobesuchen von 2,4 Prozent. Auch die schiere Zahl der Erstaufführungen in deutschen Kinos stieg von 350 im Jahr 1999 auf 416 im Jahr 2000. Eine Klage scheint daher unangemessen, und gerade am Rand der Großstädte, wo die Multiplexe aus dem Boden schießen wie die Pilze, mag sich einiges zum Positiven verändert haben. Multiplexe aber verändern die Bewegung der Menschen, sie verändern ihre Haltung, ihren Blick, ihre Wahrnehmung, ihre Körperlichkeit genauso, wie sie die Filme verändern.

Im Multiplex

Multiplexe geben sich zuallererst den Anschein, selbstgenügsame Entitäten zu sein. Abgeschottet von den öffentlichen Straßen, von jedweden attraktiven Kneipen und Cafés nisten sie sich in Baulücken oder in den Speckgürteln der Großstädte ein. Ihrer Nachbarschaft assoziieren sich Einkaufszentren, wahre Kaufpaläste, die so verlässlich einige Ladenketten über die Welt verteilen, wie sie pünktlich um 9 Uhr ihre Pforten öffnen und sie um 20 Uhr wieder schließen. Versorgungseinheiten für die Wohlhabenden, der Besucher tut wohl daran, über einen Geldbeutel oder eine Eintrittskarte zu verfügen, andernfalls wird man ihm die Türe weisen, schließlich bewegt man sich hier auf Privatgelände. Nicht der Bürger, der Konsument ist gesucht und gefragt. Und der soll sauber, clean sein und bleiben: keine Demonstrationen, keine Obdachlosen. Keine Flugblätter, keine Diskussionen. Die eigene Identität haben wir mit dem Ticket, das wir am Parkhaus gezogen haben, abgegeben. Einheitsbäume stehen in Formation, Grasflächen sind golftauglich auf Dichte gesät und akkurat gemäht.

Auch in den Gebäuden wird man den Geruch nach Meister Proper nicht los: dunkle Teppiche, die täglich mindestens einmal vom Reinigungspersonal gesaugt und shampooniert werden, große Glasflächen, die Transparenz suggerieren, wo das Gegenteil der Fall ist, die Räume sind hermetisch. Schicke Theken, dahinter adrett uniformierte Mädels und Jungs, über ihnen Videomonitore, die über die Vielzahl der Filme und ihre Anfangszeiten informieren. Glänzende Rolltreppen, die durch das Labyrinth der Architektur führen. Wieder Theken, die einen Einheitsfraß führen. Auch hier tragen die Jungs und Mädels Uniform, ihr Einheitsoutfit verfolgt uns bis zur Kartenabreißerin, die ihr „ich wünsche Ihnen einen angenehmen Abend“ so teilnahmslos runterrasselt wie ihre Kollegin in Los Angeles, Paris und Tokio. Das Bild ist überall das Gleiche.

Doch nicht nur die Körper der Angestellten sind uniformiert und gerichtet, den Körpern der Besucher widerfährt nichts anderes. Bis hin zum Kinosessel wird ihnen diktiert, wie sie sich zu halten haben. Hier strecken, hier bücken. Hier nach unten. Dort nach oben. Hier essen. Dort ausscheiden. Nirgendwo rauchen. Wo das Auge des uniformierten Personals nicht ausreicht, ein uniformes Verhalten der Besucher zu garantieren, informieren unsichtbar angebrachte Überwachungskameras ein Wachpersonal über Abweichungen von der Hausordnung. Das Bild ist nicht zufällig das eines Hochsicherheitstrakts. Doch anders als in den öffentlichen Gefängnissen überspielen die Multiplexkinos den geschlossenen Raum, den sie als attraktiven feilbieten. Die Farben sind wohltemperiert und beruhigen, die tiefen Teppiche dämpfen Worte und Bewegungen im Raum, die formale Höflichkeit der Uniformierten konvertiert ihre Anweisungen zu Bitten. Die alles übersäuselnde Musik schließlich beruhigt den nervösesten Unterhaltungshäftling wie einen übersensiblen Flugpassagier und verfolgt ihn bis in die nobelst ausgestatteten Toiletten.

Im Film

In den Multiplexen lässt sich nicht träumen. Hier habe ich zwar von jedem Sitzplatz eine optimale Sicht auf die Leinwand und sie wird, egal wo ich mich befinde, meinen Gesichtskreis überschreiten. Doch entspannt zurücklehnen darf ich mich nicht, denn die Leinwand ist nicht über meiner Blickachse, sondern darunter angebracht. Da mögen die Gesichter groß, wesentlich größer als in jedem herkömmlichen Kino sein – ich aber schaue auf sie hinab, anstatt zu ihnen aufzublicken. Hätte es ohne diesen Blick nach oben Rita Hayworth’ Gilda gegeben? Hätte Marilyn Monroe uns aus der Übersicht derartig fasziniert? Hätten Monty Clift, Gregory Peck oder James Dean uns je in ihren Bann geschlagen, wenn wir auf sie herabgeblickt hätten? Ich glaube nicht. Das moderne Multiplexkino ist nicht zufällig seltsam starlos, hier regieren die Technik, die Kameraführung, die Montage, die digitale Bearbeitung. Seine Blickachsen berauben uns des imaginären Raums in Kopf und Kino, sie stehlen uns die Distanz, die Träumer und Träumerin brauchen. Die unverhüllte Leinwand hängt uns gegenüber wie ein erbarmungsloses, lidloses Auge, ohne Versprechen auf ein Anderes setzt sie unseren Blick in eins mit der Wahrnehmung. Sie bezeichnet uns als allmächtiges Subjekt, um uns Tyrannen zu tyrannisieren.

Egal ob Tom Cruise in „Mission Impossible II“, George Clooney in „The Perfect Storm“ oder Ben Affleck in „Pearl Harbor“, ihre Körper sind Vehikel einer allmächtigen Technik, die uns in einen tropischen Sturm zwingen, an die Felswand im Grand Canyon hängen oder, schlimmer noch, einem Angriff von Kampffliegern aussetzen. Alfred Hitchcock, der nicht nur in „Vertigo“ auf den Schwindel zielte, der von der Faszination des Bilds der „Anderen“ auf der Leinwand ausging, vermutete seinen Ursprung noch in unserer Retina – wir hatten das Unheimliche mit ins Kino gebracht. Wir konnten uns als Publikum begreifen, das über sein eigenes Tun und Lassen, seine eigenen Phantasmen aufgeklärt wurde. Wir verstanden, weil wir sahen, weil etwas in uns ausgestellt wurde. Indem er den Körper des Schauspielers attackiert, in Stücke reißt oder an Felswänden marginalisiert, bringt der Multiplexfilm nicht die Projektion, sondern den Körper des Zuschauers selbst ins Spiel. Statt den Schwindel auf der Leinwand zu inszenieren, versetzt der Multiplexfilm Blick und Erblicktes in eins, anstatt den Schwindel zu begreifen, empfinden wir ihn. Bomben detonieren in unseren Augen, zerfetzte Flugzeugwracks fliegen uns um die Ohren, der Soundtrack raubt uns die Sinne. Es sind primäre Affekte um die Unversehrtheit unseres Körpers, auf die dieses Kino zielt: Jeder Kinobesuch eine Simulation ums Überleben.

Mit dem Körper des Menschen verschwindet seine Welt, das reflektieren die anspruchsvolleren Multiplexfilme. Die Kommunikations- und Biotechnologien verwischen die Unterschiede zwischen Natur und Kultur, zwischen Mensch und Maschine, das sieht man auch auf der überdimensionalen Leinwand.

Multiplex und Welt

Das, was dort geschieht, ist so real wie die Matrix im gleichnamigen Film der Wachowski-Brüder, und es ist nicht einmal sicher, ob mit der Matrix die Welt verschwindet: Präzise das Gefühl für diese Differenz kommt dem Cyborg-Zuschauer zunehmend abhanden. In „Matrix“ hütet nicht zufällig ein (schwarzer) Morpheus das Geheimnis der Differenz und wartet auf den (weißen) Messias, der den Paradigmensprung meistert. Umgekehrt heißt in David Cronenbergs „eXistenZ“ die Spielleiterin Allegra, organisches, pränatales Muttermaterial bezeichnet die Hardware, die den Übergang zur „anderen“ Welt ermöglicht. Ein „Bioport“ wird dem Spieler in den Rücken gebohrt, er hängt daran wie der Fötus an der Nabelschnur. Das Terminal ist eine Mischung aus Plazenta und Brüsten, an denen die Spieler so lange fummeln, bis die Reize fließen. Die Metapher klingt nach Sex und Masturbation, aber hier geht es nicht um Geschlechtsverkehr, sondern um den Zugang zum Leben schlechthin. Statt uns als Geborene verliebt oder narzisstisch in Spiegeln zu identifizieren, eine unendliche Geborgenheit im imaginären, mütterlichen Raum des Kinos zu empfinden, bewegen wir uns in den Multiplexen und ihren Filmen im Realen, das keine Distanz duldet und die Differenz nicht kennt. Mit der Wirklichkeit hat diese psychoanalytische Kategorie wenig zu schaffen, sie bezeichnet vielmehr die Ebene der lebensnotwendigen Bedürfnisse: Was wir brauchen, wird eingespeist.

En sortant du cinéma

Das Multiplex entlässt seine Zuschauer nicht entspannt, nicht schläfrig oder metaphysisch in die Fortsetzung der Traumarbeit vertieft. Abgekoppelt vom Informationsnabel des Kinos, sucht der Zuschauer von heute sofort, diesen zu ersetzen, die Reize müssen weiter fließen. Die Chance, ein Publikum im klassischen Sinne zu bilden, geht für den Zuschauer heute gegen null. Das Kino stellt keine Öffentlichkeit her, weder im Kinosaal noch später, wenn wir es längst verlassen haben. Wozu auch? Was sollte hier noch ausgestellt, welches Geheimnis veröffentlicht werden? Das Geschlecht? Die Psyche? Der Körper? Das Leben? Eine Erkenntnis der Welt? Die virtuelle Welt verdrängt nichts mehr und schon gar nichts Sehenswertes. Wir haben uns daran gewöhnt, bis auf unsere genetischen Muster hin durchsichtig zu sein, und wir haben uns daran gewöhnt, andere zu durchschauen. Der Blick aus dem Fenster geht ins Leere, das Leben erschöpft sich in den Soapoperas, Dokusoaps und Realityshows des Fernsehens. Obszön wie die Multiplexe ersetzen sie das Diffuse und die Heterogenität des gelebten Lebens durch eine dramaturgische Überschaubarkeit und eine Homogenität, menschliche Erfahrung definiert sich durch immer neue Schnittstellen und Benutzeroberflächen.

Der Begriff der Reproduzierbarkeit zielt heute nur noch auf die des Menschen selbst, nicht mehr auf seine transzendentale Wahrnehmung einer Differenz. Damit greifen auch die klassisch-bürgerlichen, ästhetischen Begriffe der Oberfläche und des Scheins ins Leere, die Siegfried Kracauer noch für die „Errettung der physischen Wirklichkeit“ ins Feld führen konnte. Das Zeitalter der unendlichen Simulation, die von sich selbst nichts weiß und nichts wissen will, kann eine Subjektphilosophie gut und gerne entbehren. Heute, so lehrt uns eine in machtlosen Ethikkommissionen verhandelte Naturwissenschaft, repräsentieren unsere eigenen Zellen die Welt, Zellverbände, die nicht gereizt werden, sterben ab, ob in unserem Hirn oder in der Welt da draußen. Nur in einer Hinsicht hat Kracauer noch Recht: „Jene Zurüstung der Lichtspielhäuser“, schrieb er 1926, „hat die Aufrichtigkeit für sich.“ Anstatt aber wie in den 20er-Jahren eine Selbsterkenntnis, einen „Mangel … unordentlich“ auszudrücken, der sogar auf einen „Umschlag“ der Gesellschaft zielt, inszenieren die Multiplexe heute außerordentlich ordentlich die Fülle an Reizen und garantieren obendrein ihre Befriedigung. Alte Filmpaläste und Kiezkinos mögen sterben, die Multiplexe florieren, weil sie reizen und gereizt werden. Das zahlt sich, rein darwinistisch gesehen, in ihrem und unserem Überleben aus. Vorläufig jedenfalls.