Zukunft in the Ghetto

In der Altstadt von Vilnius soll das ehemalige jüdische Viertel wieder aufgebaut werden. Das Projekt hat eine heftige Debatte um die Identität Litauens ausgelöst: Wie viel Geschichte verträgt ein Land?

von UWE RADA

Es gibt Städte, denen wünschte man, sie wären einfach bloß schön. Mit Kirchtürmen, die miteinander wetteifern, und barocken Plätzen, so üppig, dass es eine Freude ist. Städte, deren Schönheit magisch ist, wie der Lyriker und Nobelpreisträger Czesław Miłosz sagt. So magisch wie Vilnius, die Stadt, in der Miłosz seine Jugend verbrachte.

Vielleicht ist das Magische an Vilnius, dass man ihm seine Geschichte nicht sofort ansieht. Nicht die dreizehn Staaten und Besatzungsmächte, die die Stadt im 20. Jahrhundert für sich reklamierten, nicht ihren Mythos als Gründungsort der litauischen und polnischen Romantik, und auch nicht das Schicksal ihrer einstigen Bewohner. „Man kann hier leicht vergessen“, schreibt Miłosz in seinen Erinnerungen „Die Straßen von Wilna“, „dass wir am Grab von hunderttausend Juden stehen.“

Die litauische Hauptstadt wäre heute möglicherweise einfach eine schöne Stadt, wäre da nicht Emmanuel Zingeris. Der ehemalige Parlamentsabgeordnete und heutige Direktor des staatlichen jüdischen Museums will die Stadt nicht aus ihrer Verantwortung für die Vergangenheit entlassen. Zingeris will das jüdische Vilnius wieder sichtbar machen, jenes kulturelle und geistige Zentrum der jiddischsprachigen Ostjuden mit seinen Bibliotheken, Verlagen und politischen Avantgarden, dem Napoleon bei seinem Feldzug gegen Russland schon 1812 den Namen „Jerusalem des Nordens“ verliehen hatte. Will nicht nur an den Massenmord an den Juden erinnern, die einmal die Hälfte der Stadtbevölkerung ausmachten, sondern auch an den kulturellen Beitrag, den das jiddische Vilné im historischen Ghetto rechts und links der Deutschen Straße geleistet hat.

Rechts und links der Deutschen Straße, die heute Vokiečiu gatvé heißt, zeigt das ansonsten so geschlossen bebaute Vilnius Lücken. Hier ist die Geschichte der Stadt plötzlich doch sichtbar – als Leerstelle. Wo Alfred Döblin auf seiner Polenreise eine „Wilnaer Judenheit“ entdeckte, bei der sich alles „ums Geistige“ drehte, finden sich heute Parkplätze und Rasenflächen. Doch bald schon soll es hier wieder jüdisch zugehen, zumindest dem Anschein nach. Ein Anfang ist bereits gemacht, in der Žemaitijos-Straße hat man wieder die hebräischen Aufschriften angebracht und die polnischen gleich dazu. In sechs Jahren schließlich soll ein großer Teil des jüdischen Viertels wieder aufgebaut sein, mit der großen Synagoge als Zentrum und drum herum die jüdische Bank, die Schlachterei sowie 30 Wohnhäuser, alles originalgetreu rekonstruiert. Den Segen des Parlaments hat sich der umtriebige Zingeris schon geholt und auch den des Bürgermeisters. Das „Jewish Ghetto Project“, wie das Vorhaben im Rathaus etwas flapsig genannt wird, ist beschlossene Sache.

Der Wiederaufbau zerstörter Gebäude ist in Osteuropa in vollem Gange. In Moskau wurde die Erlöserkirche rekonstruiert, in Riga das Schwarzhäupterhaus, und im polnischen Elbląg kann man die Hälfte der 300 zerstörten Altstadthäuser wieder bestaunen. Anders als beim Wiederaufbau der Warschauer Altstadt geht es bei dieser zweiten Welle des Wiederaufbaus weniger um die Bewahrung nationaler Kulturgüter, sondern um lokale Geschichts- und damit Identitätspolitik. Nicht selten ist dabei die Grenze zum Stadtmarketing fließend.

Wofür aber steht das Jewish Ghetto Project in Vilnius? Um wessen Identität geht es? Was ist das jüdische Vilnius, sechzig Jahre nach dem Holocaust? Die wenigen Überlebenden, die hier noch leben? Die russischen Juden, die nach der Unabhängigkeit nach Vilnius kamen und die jüdische Gemeinde wieder auf 3.500 Mitglieder anwachsen ließen? Oder sind es jene amerikanischen Juden, die nach Krakau nun auch in Vilnius die Orte wiederfinden wollen, an denen ihre Eltern und Großeltern lebten, bevor sie ermordet wurden?

Nur, was für ein Wiederfinden wäre das? Ist nicht schon das im Krieg von Zerstörung verschont gebliebene jüdische Kazimierz in Krakau nach Steven Spielbergs Verfilmung von „Schindlers Liste“ zur touristischen Kulisse geworden? Soll neben dieser Kulisse in Vilnius nun sogar ein jüdisches Disneyland entstehen? – Solche Fragen, sagt Emmanuel Zingeris, stellt man sich nur in Deutschland. Dort sei man schließlich weiter in der Aufarbeitung des Holocaust, dort sei das Tagebuch der Anne Frank Schullektüre. In Litauen dagegen stehe die Vergangenheitsbewältigung erst am Anfang, die der kommunistischen Zeit ebenso wie die der Kollaboration mit den Nazis.

Fast wie zum Beweis finden sich dazu die Stimmen von Politikern wie Rimantas Smetona, dem Chef der rechten Nationaldemokraten. Smetona fragt sich, ob mit dem jüdischen Wiederaufbau nicht die angestammten Bewohner aus dem Viertel verdrängt würden. Selbst im Internet wird gegen das Projekt mobil gemacht, für Zingeris ein umso größerer Beweis dafür, dass „wir einen Ort brauchen, wo Schulklassen hingehen können, wo sie sehen, wie die Juden in der Stadt gelebt haben“. Das Jewish Ghetto Project, sagt Emmanuel Zingeris, „ist ein Prüfstein für ein multikulturelles Litauen“. – Was Zingeris nicht sagt: Auch in seiner Blütezeit war Vilnius nicht multikulturell. Vielmehr lebten, wie Czesław Miłosz schreibt, „die beiden Städte, die polnische wie die jüdische, für sich, ohne Interesse aneinander und von Zeit zu Zeit heimgesucht von Paroxysmen gegenseitiger Feindseligkeit“.

Für Arturas Zuokas ist das Geschichte, und die zählt für den Bürgermeister von Vilnius nur, wenn sie sich gut verkaufen lässt. So wie das Ghetto-Projekt – als Ankunft von Vilnius in der westlichen Zivilgesellschaft: „Wir bauen die Fragmente des jüdischen Viertels wieder auf, obwohl wir damit in Teilen die Fehler der Vergangenheit reparieren. Wir zeigen der Welt, dass die ermorderten Bewohner von Vilnius auf diese menschliche Weise heute in ihre Stadt zuückkehren.“

Für den 34-jährigen Zuokas ist der Wiederaufbau des jüdischen Viertels Teil der Gesamtstrategie, die Vilnius zur baltischen Metropole machen soll. „Wir wollen nicht nur Hauptstadt Litauens sein, sondern das Zentrum dieser Region, zu der wir Riga, Minsk, Kaliningrad und einige Städte in Polen zählen.“ Solche Investitionen in die Zukunft lässt sich Zuokas einiges kosten. Fast 25 Millionen Euro verschlingt derzeit der Umbau des Gedimino-Prospekts, des Boulevards der Hauptstadt, samt unterirdischen Parkhäusern. Nur von einer „Bodenheizung“ für die Bürgersteige hat der Bürgermeister sich nach heftigen Protesten wieder verabschiedet.

Rechts und links der Deutschen Straße geht es in Vilnius längst um mehr als um den Wiederaufbau dreier Blöcke. Was für Zingeris ein Projekt gegen das Vergessen und für Zuokas ein weiterer Schritt in Richtung Metropolenvision, hat in Litauen inzwischen auch eine Debatte um das Selbstverständnis eines Landes ausgelöst, das nicht nur seinen Platz in Europa sucht, sondern auch nach einem neuen Begriff von sich selbst. Als im Frühjahr in Vilnius das Konzept für die Präsentation Litauens als Gastland auf der Frankfurter Buchmesse vorgestellt wurde, protestierte der postkommunistische Ministerpräsident Algirdas Brazauskas: „Wir müssen litauische Worte, litauische Bücher, litauische Poesie, litauische Enzyklopädien vorstellen, aber uns bloß nicht auf Politisierung einlassen.“

Die „Politisierung“, die Brazauskas verhindern wollte, waren geplante Diskussionsveranstaltungen nicht nur über die kommunistische Vergangenheit des Landes, sondern auch über die jüdische Geschichte Litauens. Juden, hieß es dazu aus der Umgebung von Brazauskas, würde ohnehin viel zu viel Aufmerksamkeit zuteil.

Zwar ist der Buchmessenstreit inzwischen zu Ende. Nach einer Drohung des litauischen Präsidenten Valdas Adamkus, die Schirmherrschaft über die Buchmessenpräsentation seines Landes abzugeben, hatte Brazauskas eingelenkt. Und auch Emmanuel Zingeris kann nun das Ghetto-Projekt als litauischen Beitrag zum Thema Europa vorstellen. „Schließlich waren die jiddischsprachigen Juden von Vilnius Kosmopoliten und mit ihren grenzüberschreitenden Netzwerken die ersten Pro-Europäer“, rührt er werbeträchtig die Trommel.

Bis aus der getrennten Geschichte des jüdischen und polnischen, später des russischen und litauischen Vilnius eine plötzlich gemeinsam wahrgenommene Vergangenheit und sogar Zukunft wird, bedarf es mehr als eines symbolischen Wiederaufbauprojekts. Dieses Vilnius von morgen findet nicht nur in der Altstadt, rechts und links der Deutschen Straße statt, sondern auch dort, wo heute die europäischen Netze geknüpft werden – zum Beispiel am Autobusu Stotis, dem Busbahnhof im Süden der Stadt. Noch kommen hier nicht nur die Reisenden aus allen Teilen des Landes zusammen, sondern auch die Händler aus Weißrussland und Kaliningrad, die hier, im „Westen“, ihre Waren verkaufen und neue, „westliche“ Waren mit auf den Weg nehmen.

Am Busbahnhof liegt noch jenes babylonische Sprachgewirr in der Luft, das die Vielvölkerstädte Osteuropas einmal ausgemacht hat. Die ältere Frau hinter dem Tresen der „Busas Baras“ sagt, sie spreche neben Litauisch auch Russisch, Polnisch, Ukrainisch, Weißrussisch und sogar Tatarisch. Und Englisch, meint sie augenzwinkernd, hat sie in der Schule gelernt.

Anders als für Artura Zuokas, den Bürgermeister von Vilnius, ist das neue Europa für die Reisenden, Händler und Geschäftsinhaber am Busbahnhof keine Verheißung, sondern eine ganz reale Bedrohung. Sie wissen am besten, dass im neuen Europa Grenzen nicht nur geöffnet, sondern auch geschlossen werden – die nämlich nach Russland, Weißrussland und der Ukraine.