Jenseits der binären Codes

Posaunist, Komponist, Computer-Künstler: Der Allround-Musiker George Lewis beruft sich auf eine afroamerikanische Tradition der Computermusik. Diese Woche tritt er beim JazzFest in Berlin auf

von CHRISTIAN BROECKING

Wer nur an sich selbst interessiert ist, der ist zu „dumm“, um bei uns zu studieren, sagt George Lewis. Der Posaunist, Komponist und Computer-Installations-Künstler lehrt als Professor am Institut für Critical Studies/Experimental Practices (CSEP) der University of California in San Diego. Die Abteilung, ins Leben gerufen von der Kulturwissenschaftlerin Jann Pasler, führt die Studenten auch in Gender Studies und andere kulturkritische Fächer ein. „Wir bilden die Musiker der Zukunft aus“, meint Lewis.

George Lewis will den Bruch mit überholten Strukturen. Seit über 20 Jahren komponiert er auch mit Computern, interaktiv von Anfang an und von der Idee geleitet, dass der Computer wie ein improvisierender Musiker funktioniert. Für Lewis, der in Yale Philosophie studierte, gibt es „in dieser idealen Welt“ keinen Unterschied zwischen Computer und Mensch. „Sagt man noch E-Musik in Deutschland?“, fragt er. Kürzlich erst wurde der 50-Jährige mit dem „MacArthur Grant“ für kreative Leistungen ausgezeichnet, der mit 500.000 Dollar dotiert ist. Der Posaunist habe die Möglichkeiten der Improvisation auf bislang unbekannte Weise erweitert, heißt es in der Begründung.

Ob nun Max Roach, der auch mit elektronischen Mitteln gearbeitet hat, Muhal Richard Abrams, der auf vielen seiner Platten ein Stück mit Computer hat, Sun Ra oder DJ Spooky heute – George Lewis geht davon aus, dass es in der afroamerikanischen Musik eine eigenständige Tradition in der Arbeit mit Computern gibt. Und es geht ihm darum, wie man diese Tradition übersetzen, erweitern und erneuern kann.

Für Stanley Crouch dagegen, den afroamerikanischen Publizisten und Mastermind der neotraditionalistischen Jazzcommunity, ist der Umgang mit computerbasierter Musik eine rein europäische Erfindung und Angelegenheit. So warf er dem Art Ensemble of Chicago vor, sie würden ihre Performance mit afrikanischen Kostümen und Masken und europäischen Musikstrukturen als afroamerikanische Avantgarde verkaufen. George Lewis widerspricht entschieden. „Was Crouch sagt, ist von der Realität, wie ich sie kenne, überholt. Diese strenge Trennung funktioniert nicht mehr.“ Für ihn ist ganz klar, dass die jeweilige Soft- und Hardware immer mit Kultur verbunden ist. Da, wo Lewis arbeitet, gibt es nicht nur Klassik und Jazz, sondern eine Fülle von sich gegenseitig beeinflussenden Sounds und Rhythmen.

George Lewis erfindet nicht nur Musik für Computer, er schreibt auch Kompositionen für improvisierende Big Bands oder Streichquartette für klassisch ausgebildete Musiker. Ohne Improvisation, voll notiert. Beim Total Music Meeting in Berlin führte Lewis im vergangenen Jahr seine interaktive Computer-Komposition für virtuelles Orchester, „Voyager“, auf, ein Mittschnitt wurde kürzlich erst veröffentlicht. Dieses Jahr kehrt er als Gast des JazzFests wieder in die Stadt zurück.

Für George Lewis funktionieren die binären Codes – gut/schlecht, afro/euro, notiert/improvisiert – nicht mehr. Immer wieder betont er die Freiheit der improvisierenden Musiker – auch die freie Entscheidung, mit oder ohne Notation zu arbeiten. Doch der Vorwurf von Stanley Crouch zielt ja weiter: Er transportiert auch ein Misstrauen gegenüber jenen afroamerikanischen Künstlern, die im US-amerikanischen Wissenschaftsbetrieb eine Stelle gefunden haben. Für Lewis ist das dagegen auch ein Zeichen von Akzeptanz. Wer kreativ arbeiten möchte, muss sich auch ums Überleben kümmern. „Ich mag keinen Jazz, weil er mich an Leute erinnert, die in einem Kreis sitzen und reden“, habe John Cage einmal gesagt, zitiert ihn George Lewis, und resümiert: „In der Geschichte der African American Music sind die Ring Shouts und das Tanzen im Kreise elementar. Aber jeder spricht für sich selbst. Und Komposition ist nicht mehr ein kultureller Ausdruck der Unterdrücker, sondern ein transgressiver Akt. Wir feiern heute die Unterschiedlichkeit.“

Am 3. 11. beim JazzFest in Berlin