Wege aus der Einbahnstraße

Der Preis der künstlerischen Freiheit: Die US-Songwriterin Michelle Shocked hat vom Folk zu Soul, Blues und Gospel gefunden und darüber mit ihrer Plattenfirma gebrochen. Nun sucht die ehemalige Politaktivistin ihr Heil in der Unabhängigkeit

Über die Musik hat sie zur Religiösität der afroamerikanischen Gemeinden gefunden

von CHRISTIAN BECK

Es sind die Taten, die zählen. Oder auch: action speaks louder than words, wie man im Englischen sagt. Zum Glück für Karen Michelle Johnston, geboren am 24. Februar 1962 in Dallas, Texas. Führt man sich nämlich zunächst die Infopost der Plattenfirma zu Gemüte, kann einem ganz blümerant werden vor Schreck.

Der Einladung zum Interview folgt eine Liste von Themen, welche für die Künstlerin derzeit von Interesse seien, so das Anschreiben, vom „Zapatista Reader“ und dem „No-Nonsense Guide“, die sie gerade liest, über Globalisierungsfragen, Klimaveränderungen, ihren Deal mit einer Fair-Trade-Firma in Nogales in Mexiko, ihre noch „relativ neu gefundene“ Religiosität und deren Natur bis hin zu ihren Vorstellungen von Dub und der Bedeutung, die sie durch ihren erfolgreiche Klage gegen ihre ehemalige Plattenfirma Mercury Records gewonnen hat. Au Backe, denkt man da: Paranoia? Kontrollfreak! Und Gatte Bart Bull ist als Manager und Mädchen für alles auch gleich dabei. Das kann ja heiter werden …

Natürlich kommt beim persönlichen Zusammentreffen in Berlin dann doch alles ganz anders: Über die wohl dokumentierten Familienabgründe reden (Scheidung, Mutter Mormonin, Psychiatrie) – kein Problem! Kommentare zu den Auseinandersetzungen mit der alten Plattenfirma – gern! Selbst die heikle Frage zum heikelsten aller Themenkomplexe, dem Kampf zwischen den Geschlechtern – geht in Ordnung, sowieso. Habe sie denn nicht Sexismus in ihrer Karriere am eigenen Leib erlebt? Nicht, dass sie wüsste! Habe sie mit der Frauenbewegung etwas am Hut? „Ich bin keine Feministin! Ich bin feministisch!“

Oder, ein wenig konkreter: „Natürlich habe ich als Frau in dieser Industrie einschlägige Erfahrungen gemacht. Nicht so schlimme wie manche, schlimmere als andere. Diese Industrie ist meiner Meinung nach ein Ausdruck gebündelter Männermacht. Deshalb treffen die Nachteile so oft die weiblichen Künstler, und übrigens auch ebenso oft die weiblichen Mitarbeiter in den verschiedensten Geschäftsbereichen. Aber für mich persönlich ist die Geschlechterfrage zu eng gefasst: Mein Hauptthema ist Rassismus. Die Erfahrungen als Frau lediglich zu Auseinandersetzungen über Frauenfragen zu benutzen, ist mir zu selbstbezogen. Seine Einsichten in die gesellschaftlichen Nachteile von Frauen dafür zu nutzen, Verständnis für die Probleme anderer Gruppen in der Gesellschaft zu entwickeln, geht darüber hinaus.“

Moralische Bewertungen der eigenen Entwicklung, die einst alles andere als bewusst auf den Weg kam. Unerfahren in Mediendingen, ereignete sich Michelle Shockeds Karriere zunächst jenseits jeglicher konkreten Idee: „Mein Plan war, Aktivistin zu werden, Community-Organisatorin, Vagabundin, zielloser Bohemien. Es war dies die Reaktion auf eine Kultur, die zunehmend darauf hinauslief, uns nur in dem Maße wertzuschätzen, wie wir einen ökonomischen Beitrag zur Gesellschaft leisten. Ich suchte nach einem Weg, mein Leben komplett frei von solchen Kriterien zu leben“, erinnert sie sich an eine Jugend, die sie, gerade aus der psychiatrischen Anstalt entlassen, in die sie die religiöse Mutter als Teenager kurzerhand hatte einweisen lassen, in den frühen Achtzigerjahren aus Texas hinaus und über die Hausbesetzerszene von New York nach Amsterdam und wieder zurück in die USA führte.

Den Plan hatte sie allerdings ohne die Musikindustrie gemacht. Gerade erst wieder aus Europa zurückgekehrt, sang sie beim Kerrville Folk Festival in Texas dem Produzenten Pete Lawrence ein paar Songs in dessen Sony-Walkman. Der fuhr mit seinem Tape nach Hause, lieferte es bei der Plattenfirma Cooking Vinyl ab, bei der er beschäftigt war („Crooked venal“ – betrügerisch bestechlich – da kannst du mich zitieren“). Die ausgekochten Produzenten ließen die Darbietungen auf Platte pressen, gaben dem Ding den Namen „The Texas Campfire Tapes“ – und bevor Michelle Shocked überhaupt wusste, dass sie eine Platte auf dem Markt hatte, war diese auch schon ein Hit in den so genannten Independent-Charts in England.

So nahm der Ärger seinen Lauf: Cooking Vinyl war mit dem Musikkonzern Mercury Records verbunden, zu dem Michelle, vielversprechend wie ihre „Texas Campfire Tapes“ nun einmal waren, folglich bald wechselte. Innerhalb weniger Jahre aber geriet sie mit Mercury so aneinander, dass – zumindest was Plattenveröffentlichungen betraf – schließlich buchstäblich gar nichts mehr ging. Die Version der Plattenfirma: Michelle Shockeds Flirt mit den Stilen der so genannten Black Music habe keine künstlerisch nennenswerten Ergebnisse gezeitigt. Die Version der Künstlerin: „Der Deal, den ich mit ihnen verhandelt hatte, war ihnen zu gut für mich.“

Nach dem halben dutzend Alben, auf die Michelle Shocked es allen Hindernissen zum Trotz inzwischen gebracht hatte – eines davon besser als das andere: immer schwärzer, immer soulvoller –, folgte ihre bislang größte Tat: Ausgeliefert wie sie sich Mercury Records gegenüber fühlte, reichte Michelle Shocked unter Hinweis auf das 13. Amendment (Verbot der Sklaverei) und ein kalifornisches Gesetz, das Verträge über persönliche Dienstleistungen auf sieben Jahre limitiert, Klage auf Annullierung ihres Plattenvertrags ein. Bis der Gegner einen Tag vor der Verhandlung schließlich klein bei gab und seine „Sklavin“ in die Freiheit entließ.

Eine Freiheit, die Michelle Shocked nicht nur lieb, sondern auch teuer ist: Unabhängig und selbst verwaltet zu sein, habe unbestreitbare Vorteile, was die Auschließlichkeit künstlerischer Selbstbestimmung betreffe, sagt sie erwartungsgemäß; fügt aber, weit weniger vorhersehbar, sogleich auch hinzu, dass die Sache bezüglich der Verkäufe, die mit Indie-Vertrieben und Indie-Promotion möglich seien, leider auch klare Nachteile habe.

Dafür ist die Widerständlerin nun, laut eigener Aussage, die einzige ehemalige Major-Künstlerin in den USA, die persönlich die Rechte an sämtlichen ihrer Werke besitzt. Ihre Energie für die langwierigen Auseinandersetzungen hatte Michelle Shocked nicht zuletzt aus wachsenden religiösen Anwandlungen gezogen, die sie explizit „schwarz“ nennt – wie die zunehmende Einfärbung ihres ursprünglich einmal aus „weißem“ Folk und noch weißerer religiöser Mormonenmusik entsprungenen Repertoires mit Stilmitteln des Soul, des Blues, des Gospel. Und natürlich mache es Sinn, in solchen Fragen zwischen „Schwarz“ und „Weiß“ zu unterscheiden, spricht die Politaktivistin manch heutiger politischer Korrektheit Hohn.

Schwarze Kultur sei nun einmal in mancher Beziehung eine ungleich kraftvollere Kultur als weiße, anschaulich nachvollziehbar am Bespiel religiöser Praxis: „In den religiösen Ritualen in Europa, egal ob katholisch oder protestantisch, geht es immer um hierarchische Vermittlung der Inhalte vom Priester zur Gemeinde. Respektvoll, aber Einbahnstraße.“

Demgegenüber stünden die aus den afrikanischen Gebräuchen entwickelten Rituale schwarzer Gemeinden in Amerika: „Gleichberechtigt, auf Augenhöhe, kommunikativ. Die Vermittlung durch den Prediger wird zur Interaktion zwischen allen Beteiligten, von hier nach da und dort, zurück – wie ein Nervensystem, das in alle Richtungen funktioniert.“ Und bei dem natürlich auch jedermann, egal welcher Herkunft und Abstammung oder gar Hautfarbe, mit von der Partie sein kann. Wie Michelle Shocked es formuliert: „Mein persönlicher Glaube ist: Wenn man sich dieser Qualität hingibt, geht sie auf einen über.“

Michelle Shocked: „Deep natural/Dub natural“ (Mighty Sound/EFA Medien). Live: 1. 11. Krefeld, 5. 11. Bielefeld, 6. 11. Erlangen, 7. 11. A-Wien, 8. 11. Karlsruhe, 9. 11. A-Innsbruck, 13. 11. CH-Bern