„Keine Bremser“

Hans-Jürgen Papier, der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, über Karlsruhes Rolle beim Reformkurs und die Gefahr des Kommissionswesens

Interview CHRISTIAN RATH

taz: Herr Papier, in Deutschland geht man nicht auf die Barrikaden, sondern „nach Karlsruhe“. Faktisch dient Ihre Prüfung von Sozialreformen aber nicht zuletzt der Akzeptanzbeschaffung für den Strukturwandel …

Hans-Jürgen Papier: Darin sehen wir natürlich nicht unsere primäre Aufgabe. Aber die Beobachtung, dass Urteile des Bundesverfassungsgerichts meist eine befriedende Wirkung haben, ist sicher richtig.

Gelegentlich regt Karlsruhe ja auch selbst Reformen an. Ich denke an Ihre Forderung, die Sozialversicherung familienfreundlicher zu machen.

In unserem Urteil zur Pflegeversicherung vor zwei Jahren haben wir bestimmt, dass Familien bei den Beiträgen entlastet werden müssen, denn Kinder sichern die Zukunft der Pflegeversicherung. Bis Ende 2004 muss der Gesetzgeber außerdem prüfen, ob solche Entlastungen für Familien auch bei der Rentenversicherung geboten sind.

CDU-Parteichefin Angela Merkel hat jüngst vorgeschlagen, dass Kinderlose nur noch halb so hohe Renten bekommen sollen wie Eltern. Sind solche Ideen im Sinne der Karlsruher Vorgaben?

Man kann Kindererziehung bei den Beiträgen oder bei den Leistungen anrechnen. Wir haben bei den Beiträgen angesetzt, weil so die Entlastung schon dann wirkt, wenn Familien durch die Kindererziehung noch materiell belastet sind. Die Leistung wird ja erst Jahrzehnte später ausgezahlt. Aber es ist gut, dass die Politik jetzt über die demografischen Probleme der Sozialversicherung diskutiert.

Im Auftrag der Rürup-Kommission ist das Problem ja überhaupt nicht erwähnt …

Ich gehe davon aus, dass die Rürup-Kommission alle wesentlichen Fragen zur Reform der Sozialversicherung prüft, also auch die Familiengerechtigkeit.

Sie sind ja kein Freund derartiger Kommissionen …

Ich sehe die Gefahr, dass die zentrale Stellung des Bundestags ausgehöhlt wird, wenn wichtige Entscheidungen auf Kommissionen ausgelagert werden, deren Ergebnisse dann vom Parlament „eins zu eins“ umgesetzt werden sollen.

Dann müssten Sie die Rürup-Kommission ja toll finden. Die Beratungen zur Krankenversicherung endeten schließlich mit zwei unvereinbaren Vorschlägen, jetzt hat der Bundestag die Wahl.

Das wird man der Rürup-Kommission sicherlich nicht vorhalten können. Aber ihre Einsetzung ist symptomatisch für eine schleichende Entparlamentarisierung. Außerdem sind bei Renten- und Krankenversicherung die Problemlagen bekannt. Jetzt sind Entscheidungen fällig, die durch die Einsetzung solcher Kommissionen eher verzögert werden.

Herr Papier, die Bürger staunen über viele Vorschläge zur Reform der Sozialversicherungen: Kopfprämien ohne Rücksicht auf das Einkommen, Einbeziehung von Zins- und Mieteinnahmen. Kann der Gesetzgeber einfach ein völlig neues System einführen?

Im Prinzip ja. Das Grundgesetz verpflichtet nicht zum Erhalt eines bestimmten Vorsorgesystems für Krankheit und Alter. Allerdings muss der Gesetzgeber bei Änderungen die Ansprüche, die die Bürger bereits erworben haben, berücksichtigen.

Die Versicherten haben ja oft jahrzehntelang Beiträge bezahlt …

Genau. Damit können sie Anwartschaften auf spätere Leistungen der Sozialversicherung erworben haben. Das Bundesverfassungsgericht stuft diese Anwartschaften etwa in der Renten- und Arbeitslosenversicherung als Eigentum ein und schützt sie entsprechend.

Bei der Reform des Arbeitslosengeldes wird deshalb über eine Übergangsphase von zwei Jahren gesprochen. Ergibt sich die Dauer aus dem Grundgesetz?

Nein. Auch in der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts findet sich keine Faustformel für die Berechnung solcher Übergangsfristen.

Muss die Übergangsfrist nicht umso länger sein, je länger jemand in die Sozialversicherung einbezahlt hat?

Das kann je nach Versicherungszweig ein plausibles Kriterium sein.

Karlsruhe wacht also über die Interessen der Versicherten?

Das Bundesverfassungsgericht muss und wird gewährleisten, dass bei den anstehenden Reformen die rechtsstaatlichen Garantien berücksichtigt werden.

Und der Gesetzgeber muss zittern?

Nein, das wäre ein Missverständnis. Die Sicherung der Leistungs- und Existenzfähigkeit der Sozialsysteme kann Einschnitte beim Einzelnen rechtfertigen. Das Gericht ist weder Bremser noch Gestalter bei notwendigen Veränderungen.