Arbeit am Absoluten

Mit „Die Arbeiter des Meeres“ vollendete Victor Hugo eine ansonsten aus „Der Glöckner von Notre-Dame“ und „Die Elenden“ bestehende Romantrilogie über die „drei Mächte, mit denen der Mensch zu ringen hat“: Religion, Gesellschaft, Natur. Nun gibt es den Roman in einer neuen deutschen Übersetzung

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Vom Flüssigen und seinen Transformationen handelt dieses Buch: vom Meer, von Wind und Sturm, von Wolken und Unwettern. Wer den romantischen Schauer vor dem Erhabenen schätzt, wer die Auflösung des Menschen ins Unbedeutende vor der Unendlichkeit nicht scheut und es gar liebt, wenn dem Wuchern der Metaphern und der philosophischen Spekulation Tür und Tor sperrangelweit geöffnet werden, der wird bei der Lektüre von Victor Hugos Roman „Die Arbeiter des Meeres“ bestimmt auf seine Kosten kommen. Wer dagegen die Geschichte einer Liebe lesen will, die auf Seite zwei des Romans zwar eingeleitet, dann aber über hunderte von Seiten verzögert wird, kann diesen Autor mit seinen sprunghaften Anwandlungen nur verdammen. Wer auf Abenteuer steht, auf Geschichten von wagemutigen Unternehmern in der Zeit der ersten Dampfmaschinen, auf Schmuggler- und Gespenstergeschichten, auf Intrigen und Betrügereien, die auf lange Sicht doch entdeckt und bestraft werden, der findet zwar genügend Stoff für Spannung, der allerdings wie kleine Inseln vom hauptsächlichen Element des Romans umgeben ist: großartige Naturbeschreibungen einer kargen Landschaft, die vor allem aus Wasser, aus Wasser und Klippen und nochmals aus Wasser und Abgründen besteht.

Die Sprache ist das zweite flüssige Element des Buches, ein formbarer Stoff, den der Autor virtuos der Dynamik der Natur anzupassen sucht, die er beschreibt. Die unendliche Ausdehnung der Wasserwüsten, die Kraft der Wellen, das Brechen der Energie des Meeres an den Klippen: Nicht nur der Rhythmus der Wörter und Sätze formt diesen Kräften analoge Bewegungen nach, sondern auch der Wechsel der erzählerischen Perspektiven, die weite Ausdehnung in der Totalen, die Verengung in den Naheinstellungen, ein Ein- und Ausatmen des Stroms aus Worten.

Der Roman ist der dritte Teil einer Trilogie. „Die Religion, die Gesellschaft, die Natur, das sind drei Mächte, mit denen der Mensch zu ringen hat“, schreibt Hugo im Vorwort. Der Auseinandersetzung mit der Religion galt „Der Glöckner von Notre-Dame“, der Auseinandersetzung mit der Gesellschaft „Die Elenden“, beide dem deutschen Leser bekannter. Den dritten Roman schrieb Hugo in den Jahren 1864/65 auf der Insel Guernsey, dem Ort seiner Verbannung. Nach der Veröffentlichung 1866 in Paris und Brüssel war der Roman in Frankreich ein großer Erfolg. In Deutschland aber wurde er nie so populär wie die anderen Bücher Hugos. Einen neuen Anreiz zur Lektüre aber hat der Verlag Achilla Press gegeben mit einer neuen deutschen Übersetzung, der ersten seit 50 Jahren, von Rainer G. Schmidt. Die Ausgabe ist noch dazu um einen Anhang von hundert Seiten ergänzt, in denen Hugo sein Wissen über die Kanalinseln, historisch, naturwissenschaftlich, sprachgeschichtlich zusammenfasste. Das ist heute auch gerade da interessant zu lesen, wo sich der wissenschaftliche Gestus zwar als literarische Fantasie erkennen lässt, aber dennoch erstaunt durch seinen Vorschein auf heutige Theorien, wie etwa die Chaostheorie.

Ein wortkarger Held und 522 Seiten Sprachrausch, so lässt sich „Die Arbeiter des Meeres“ auch zusammenfassen. Das Herzstück bildet die Rettung eines Schiffsmotors, der sich als Teil eines Wracks hoch zwischen zwei einsamen Felsnadeln im Meer verklemmt hat. Wie Gilliat, der besser mit der Natur als mit den Menschen kommunizieren kann, dieses Wrack sichert, zerstörtes Material sammelt und sortiert, sich neue Werkzeuge schafft, Wind und Felskamine für das Feuer seiner Schmiede nutzt, gehört zu den spannendsten Arbeitsprozessen, die jemals minutiös erzählt wurden. Es sind vielleicht die schönsten Kapitel über den sparsamsten Umgang mit Ressourcen und das sorgfältigste Recycling, die die Literaturgeschichte bis heute zu bieten hat. Das ist ein Reiz, den der Roman sozusagen nachträglich gewonnen hat.

Wie Gilliat tagelang mit Hunger, Durst, Nässe und Kälte auskommt, wie er Stürme und Müdigkeit übersteht, wie er die Geschichte der Zivilisation und Naturbeherrschung durch Arbeit noch einmal am eigenen Leib durchlebt, macht ihn dagegen zu einer sehr romantischen Figur. In der Einsamkeit der Klippen wird der Himmel über ihm und die Schwärze der Nacht zum Raum seiner Gedanken. Entsprechend nah kommen sich das Innerste und das Äußerste, seine Empfindungen und das Universum. Hugos Sprache ist dabei so emphatisch, dass man sich oft Satz für Satz als Aphorismus notieren möchte, aber dann doch bald verzagt vor dieser Arbeit am Absoluten. Zumal die Bilder und Gedanken nicht kohärent, sondern voller Widersprüche und Paradoxien sind. Dazwischen zu pendeln, nichts definitorisch erstarren zu lassen und vom einen Bild wieder zum andern zu kommen, das ist die dritte Verflüssigung, die das Buch leistet.

Aber nicht nur zwischen dem Inneren des Helden und der äußeren Welt finden seltsame Transformationen und Zirkulationen statt, sondern auch zwischen dem Autor und seinem Stoff gibt es wunderbare Spiegelungen, die das Herz jedes Literaturhistorikers höher schlagen lassen. Zum Beispiel Hugos Spiel mit seinen Initialen. Anfang dieses Jahres beschrieb Hans-Christof Waechter auf den Reiseseiten der taz einen Streifzug über die britische Kanalinsel Guernsey, inklusive der Schauplätze der „Arbeiter des Meeres“. Er besichtigte auch Hautville House, Victor Hugos Residenz, und staunte über den dekorativen Furor: „Ein manischer Horror vacui muss den Dichter umgetrieben haben.“ In allem Verzierungen, ob Holz oder Keramik, tauchen immer wieder seine Initialen VH auf.

Diese Initialen, in denen seine Identität mit dem Körper der Buchstaben verschmilzt, geistern auch durch seine Romane. Im „Glöckner von Notre-Dame“ bilden die Türme der Kathedrale das H, in den „Arbeitern des Meeres“ sind es die Felsnadeln mit dem eingeklemmten Wrack, die den Namen des Autors verkörpern. Das sieht man nicht nur mit dem geistigen Auge, sondern auch in Hugos Tuschzeichnungen. Die meisten davon sind nicht erst als Illustrationen des Romans entstanden, sondern gingen ihm voraus. 3.000 Zeichnungen sind bekannt, einige wenige dem Roman beigegeben. Die Tusche ist wieder das Flüssige, und die Zeichnungen, die oft weniger gegenständlich scheinen als vielmehr von der beobachteten Energie der Natur und ihrer Umsetzung in zeichnerische Bewegung geprägt, werden zum vermittelnden Element zwischen Meer und Natur auf der einen und Sprache und Schrift auf der anderen Seite.

Der französische Kunsthistoriker Georges Didi-Huberman hat dies vor einem Jahr in seiner Antrittsvorlesung in Berlin beschrieben. Wie die Dynamik von Ausdehnung und Streuung, von Strudeln und Pulsieren zuerst in den Bildern da ist. Sie bilden ein Missing Link zwischen dem, was beschrieben wird, und den Strategien des Erzählens. In ihren visuellen Strukturen findet sich alles wieder, was sich über die Bewegung des Meeres und über die Bewegung der Sprache sagen lässt.

Aber die Tusche und ihre Schwärze finden auch noch in anderer Form Eingang in den Roman. Es gibt nämlich ein Ungeheuer, gegen das Gilliat kämpfen muss, ein Ungeheuer, das ihn auszusaugen und zu vernichten droht. Das Ungeheuer ist ein Krake, den Hugo als Verkörperung der Leere beschreibt und den Kampf mit ihm mehr als Bedrohung durch das Nichts denn als durch den Tod darstellt: „Er ist ein schlaffer Hautsack ohne Inhalt. Im Mittelpunkt seiner Strahlen hat er eine einzige Öffnung. Klafft da ein After auf oder der Mund? Dasselbe Loch versieht beide Funktionen. Der Eingang ist der Ausgang. Das ganze Tier ist kalt. Man bekommt es mit dem Leeren zu tun, das Tatzen hat. Mit den Krallen dringt das Tier in euer Fleisch ein; beim Saugnapf aber dringt ihr selbst ins Tier ein. Eure Muskeln schwellen an, die Fasern krümmen sich, die Haut platzt, das Blut spritzt auf und mischt sich in abscheulicher Weise mit dem Körpersaft des Molluksen. Die Hydra verleibt sich den Menschen ein; der Mensch vermischt sich der Hydra.“ Biologisch ist das zwar falsch, aber nicht nur Splatterfans werden dieses Ungeheuer zu genießen wissen. Es ist einfach ein genialer Metaphernlieferant und dazu auch noch als Sepia Produzent der Tusche oder Tinte, die es braucht, um aus der Angst vor dem Nichts wieder ein Etwas zu machen.

Auch von dem Kraken gibt es eine Zeichnung, auf der seine schlingernden Tentakeln ein V und ein H bilden. Man könnte „Die Arbeiter des Meeres“ auch als einen Roman charakterisieren, der mit der Gefahr der Auflösung ins Nichts ganz prächtig und auch ein wenig kokett spielt. Denn das ist doch immer noch die beste Folie, um den sprachlichen Schöpfer zu geben und aus Federstrichen und Buchstabenketten eine Welt zu bauen.

Victor Hugo: „Die Arbeiter des Meeres“. Aus dem Französischen von Rainer G. Schmidt, Achilla Press, Hamburg 2003, 667 Seiten, 40 €