IMPRESSIONEN VON EINEM BESUCH IN TEL AVIV-YAFO
: Tag und Nacht in der Doppelstadt

Tel Aviv und Yafo, das arabische Jaffa, bilden zusammen eine Stadt. Auf den ersten Blick interessiert sich hier niemand für die Intifada. Aber wenn die Menschen erzählen, schiebt sich plötzlich eine gläserne Wand zwischen jüdische und arabische Israelis.
Von SELIM NASSIB *

TEL AVIV ist wie eh und je in Bewegung, Tag und Nacht. Die Menschen gehen aus, arbeiten, amüsieren sich leidenschaftlich auf der Suche nach einer Gegenwart, die nicht vergeht. Ihre Jahreszeit ist der Sommer. Die vier Jahre Intifada haben keine sichtbaren Spuren hinterlassen. Vielmehr scheint es, als hätten sie den Erlebnishunger, die Energie und die Vibrationen der Stadt nur gesteigert. Alles ist ständig in Bewegung, überall Menschen – in den Restaurants und Cafés, an den langen Sandstränden und in den Hotels am Meer. Orthodoxe Juden neben Mädchen, die ihren Bauchnabel zeigen; dazwischen Jemeniten, Fellachen, Prostituierte und Großfamilien. Man hört Hebräisch, Russisch, Französisch, Englisch. Aber wenn ich Arabisch spreche, werden die Menschen um mich herum angespannt.

Das Licht ist wie in Beirut, die gleiche Meeresluft, das Salz auf der Haut, eine allgegenwärtige latente Sinnlichkeit. Orient. Nachts formen die Cafés eine Kette bunter Lichterpyramiden den Strand entlang, das Meer lädt zum Baden ein. Die Sushibars schließen spät, zahllose Clubs locken; und überall werden einem Drogen angeboten.

Der Krieg ist anderswo, in den „Gebieten“, fernab. Unter diesem blauen Himmel erinnert nichts an ihn. Dabei liegt Gaza nicht mal eine Autostunde entfernt, Jerusalem ist noch näher – Tel Aviv will nichts davon wissen. Wie alle absolvieren auch die Bewohner dieser Stadt ihren dreijährigen Militärdienst und jedes Jahr einen Monat Wehrübungen. Die Menschen kennen die Intifada. Aber sie tun so, als ginge der Aufstand sie nichts an, als wäre er im Ausland, in der Ferne, in den Siedlungen.

Es ist friedlich hier in der Großstadt. Sie verbreitet Ferienstimmung, das Enkelkind nennt die Stadt „Telle la vie“, „So ist das Leben“. Nur die bewaffneten Wachen mit ihren Metalldetektoren am Eingang der Restaurants und der öffentlichen Gebäude erinnern an die tägliche Gefahr der Anschläge. Aber diese Männer gehören ins Bild und sind längst unsichtbar geworden. Es ist, als schütze die Mauer die Stadt nicht nur vor den Terroristen, sondern auch vor den Geräuschen der Kampfhandlungen dahinter. Nicht dass die Stadt sich vom Land abwenden würde, sie hält sich nur etwas abseits. Eine Insel, die wie ihr Vorbild New York niemals schläft.

„Sie haben es geschafft, dass die Araber aus der Landschaft verschwunden sind“, sagt der Filmemacher Avi Mograbi, Autor des höchst spaßigen Films „Wie ich lernte, meine Angst zu überwinden und Ariel Sharon zu lieben“ von 1997. Verschwunden sind nicht nur die Palästinenser aus den besetzten Gebieten, sondern auch die israelischen Araber, eine Million der sechs Millionen Einwohner. Seit die Armee im Oktober 2000 dreizehn israelische Araber bei einer Demonstration kurz nach Beginn der Intifada erschoss, sehen sich beide Seiten mit anderen Augen an. Die einen, die sich als fast vollwertige israelische Staatsbürger ansahen, haben verstanden, dass sie als Palästinenser erschossen werden können. Die anderen, die vollwertigen israelischen Staatsbürger, wissen, dass ihre Arbeiter oder Hausangestellten von heute auf morgen ein Risiko sein können. Diese Spaltung, die mit den anderen Augen begann, verstärkte sich nach und nach. Die freien Arbeitsstellen wurden sofort mit philippinischen, russischen und rumänischen Immigranten besetzt. Tagtäglich verwirklicht Tel Aviv den Gründertraum: eine jüdische Stadt und ein ganz normales, vielleicht sogar mehr als normales Leben.

Avi Mograbi ist die Kraft für witzige Filme abhanden gekommen. Sein achtzehnjähriger Sohn hat beschlossen, der Einberufung zum Militärdienst nicht Folge zu leisten. Ihm drohen nun zwei oder mehr Jahre Gefängnis. Seit Monaten trifft sich die Familie mit anderen refuzniks und deren Eltern, um sich gemeinsam auf das Kommende vorzubereiten. Der Verein „Das Schweigen brechen“ macht eine Ausstellung mit Fotos, die junge Wehrpflichtige während ihres Dienstes vor allem an den Kontrollpunkten von Hebron aufgenommen haben. Sie wollen zeigen, was Besatzung im Alltag heißt.

Obwohl in Umfragen die Mehrheit der Israelis einen fast vollständigen Rückzug aus den besetzten Gebieten befürwortet, sind diese Aktivisten Prediger in der Wüste. Denn auch das „Friedenslager“ glaubt nicht mehr an Frieden. Nach dem Scheitern der Verhandlungen von Camp David im Juli 2000 und von Taba im Januar 2001, nach den Selbstmordanschlägen, dem Ausbruch der zweiten Intifada und dem Sieg Scharons ist das Lager gespalten.

Nur wenige Israelis, Linke wie Rechte, kritisieren die Trennmauer grundsätzlich. Trotz gewisser Differenzen folgen sie alle ein und demselben Credo: Die Außenwelt ist uns feindlich gesinnt, die palästinensischen Verhandlungspartner sind korrupt und schwach, Arafat hatte unser großzügiges Friedensangebot ausgeschlagen, Israel hat nun einmal keine Wahl. Dieses Klima bedrückt besonders jene, denen das Grauen der Okkupation und der Selbstmordattentate den Schlaf raubt. Sie sind isoliert, erschöpft und demonstrieren dennoch weiter, nicht weil sie noch eine Hoffnung hätten, sondern weil sie nicht anders können.

Im verfallenen Norden der Stadt, in dem von Gastarbeitern, Fellachen und armen Familien bewohnten Viertel mit seinen unzähligen Motorradläden, haben jüngst ein paar Szenecafés aufgemacht. Wir wollen einen Roller ausleihen, aber das ist nicht leicht. Schließlich finden wir einen mit Hilfe eines jungen jüdischen Motorradverkäufers. Er erzählt, dass seine Familie, als sie in den Fünfzigerjahren aus Bagdad floh, ihre gesamte Habe zurücklassen musste. Aber sein Onkel habe sich gerächt: Er beteiligte sich 1981 an der Vorbereitung des Luftangriffs auf den irakischen Atomreaktor Osirak.

Die aktuelle Politik interessiert den Motorradverkäufer nur mäßig. „Hier hat der Krieg nie aufgehört“, meint er. „Der einzige Unterschied ist, dass mein Vater glaubte, es wäre ein guter Krieg, während in meinen Augen der Krieg einfach bekloppt ist.“ Was zählt, ist das Leben selbst, sind die Motorräder und vor allem die schekina – die Sinnlichkeit des Zusammenseins.

Riesige Bullaugen in den Hauswänden, abgerundete Balkone, übereinander angeordnete Belüftungsfenster – die Bauhaus-Blöcke, die am Rande des Stadtzentrums ganze Straßenzüge prägen, sind von weitem zu erkennen. Es sind so viele und so verschiedenartige, dass Tel Aviv von der Unesco als Weltkulturerbe anerkannt wurde. Das Bauhaus-Wunder im Nahen Osten hatten jüdisch-deutsche Architekten, die vor den Nazis ins damals britische Palästina geflohen waren, geschaffen. Hier hatten sie miteinander gebaut, miteinander gewetteifert, als ob sie im Geiste ganz woanders wären. Mit der Gründung Israels 1948 hörte dieser Boom schlagartig auf, plötzlich gab es andere Prioritäten und andere Stile. Mittlerweile hatten sich die Bauwerke in das Stadtbild eingepasst. Einige wurden später mit Originalbaustoffen restauriert, doch die meisten sind längst verfallen und wurden von den jeweiligen Bewohnern nur notdürftig hergerichtet. Wegen der Wohnungsnot haben viele ihre Balkone durch Plastikrollläden, die trisim, in zusätzliche Zimmer verwandelt.

Wir fahren auf unserem Motorroller die Uferstraße nach Süden und erreichen irgendwann eine unsichtbare Grenze. Auf der anderen Seite steht eine hell erleuchtete Uhr mitten auf einem Platz. Hier beginnt Jaffa, die Stadt der traurigen Orangen, wie sie sich selbst nennt. Arkaden, dicke Quadersteine, gewundene Gassen, jeder weiß es: Jaffa ist arabisch, auch wenn die beiden Städte offiziell eine Einheit bilden, Tel Aviv-Yafo.

Der Ort, an dem sich die beiden Kulturen berühren, liegt hinter der Uhr, auf dem Bürgersteig vor einer großen, zur Straße hin offenen Bäckerei – der besten der Stadt. Hier parken die Autos in zweiter Reihe, sie kommen von überall her, wie magisch angezogen. Auf einer Auslage von zwanzig Meter Länge locken Brote aller Art. Kunden und Verkäufer sprechen hebräisch miteinander, wie durch eine gläserne, verzerrende Wand.

Arabisch ist aus dem Straßenbild verschwunden. Alle Schilder sind auf Hebräisch, sogar die Namen an den Türklingeln. In einer der steilen Straßen drückt sich das alte Haus mit den Spitzbogenfenstern eng an das Haus des Scheichs von Jaffa. Wir gehen durch ein blaues Tor in einen großen, einladenden Innenhof. Er ist üppig bepflanzt und geht in die Nachbarhöfe über. Hier wohnen zwei Hunde und ein Papagei. Jack, der Freund, der uns das Haus geborgt hat, ist in Tripolis geboren, wo seine Familie seit Urzeiten lebte; sie sprach Arabisch und Italienisch. Nach Gaddafis Machtantritt wurde das Leben für Juden in Tripolis unerträglich; sie gingen fort, ließen ihr Eigentum zurück. Jack war damals zwanzig, kam nach Jaffa und hat hier ein neues Zuhause gefunden.

Wir kommen gegen Mitternacht an, bringen die Enkeltochter ins Bett, gehen hinauf auf die Dachterrasse und beschließen, heute Nacht unter den Sternen zu schlafen. Hier, weit entfernt von den Hochhäusern Tel Avivs, kann man über die niedrigen, ineinander verschachtelten Hausdächer hinweg in der Ferne das Meer erahnen. Die Straßen sind menschenleer, es ist still: Wir meinen, wir seien in einem anderen Land.

Plötzlich sind Schüsse zu hören, sieben hintereinander. Nach dem Geräusch zu urteilen, sind es Pistolenschüsse. Überall kommen Männer in Schlafanzügen aus ihren Häusern und versuchen, zu ergründen, woher die Schüsse kamen. Auf Arabisch. Die Zeit vergeht, nichts geschieht. Kein einziges Polizei- oder Armeeauto erscheint, die Staatsmacht bleibt fern. Nach dieser Entladung der Gewalt gehen die Männer zurück in ihre Betten.

Etwas später ertönt der Ruf des Muezzins, der sofort ein Gefühl der Vertrautheit verbreitet. Gott ist größer und Beten ist besser als Schlafen. Es ist vor allem der singende Ton: Sowie man ihn hört, ist man in der muslimischen Welt angekommen, nehmen einen ihr Geist und Rhythmus gefangen. Die Silhouetten der Häuser unter dem heller werdenden Himmel verstärken diese Illusion. Sogar die Atemluft scheint zu klingen. Allmählich wird das von zwei grünen Neonaufschriften erleuchtete Minarett der Moschee sichtbar. Der sandfarbene Stein ist restauriert, wie neu. Doch der Ort, an dem der Gebetsruf erschallt, ist in Wirklichkeit eine kleine, verlorene Insel inmitten eines jüdischen Meeres.

Am Morgen weiß niemand, was geschehen ist. Wir leben in einem Viertel von Kleinkriminellen, Autoradiodieben und Drogendealern, in das sich die Polizei nur selten hineintraut. Die Araber gehen auf dem arabischen Markt einkaufen, die Juden im Supermarkt. Verschiedene Einkommensklassen, verschiedene Lebensweisen – die zwei Gesellschaften von Jaffa leben in Parallelwelten. Sie begegnen sich zwar, aber sie nehmen sich nicht wahr. Jankele, ein Nachbar, der die Blumen gießen kommt, glaubt, dass die Franzosen „mit ihren Muslimen bald die gleichen Probleme haben werden wie wir mit den Arabern“. Dabei ist an der Oberfläche alles glatt, alles ruhig.

Eines Morgens hatten Jack, unser Wohnungsverleiher, und Imbal, seine Frau, den Papageienkäfig leer vorgefunden. Nur der Nachbarssohn konnte den Vogel gestohlen haben, denn nur eine kleine Mauer trennt die Höfe. „Wenn es mein Sohn war“, sagte der Nachbar, „bekommen Sie Ihren Papagei wieder. Aber gehen Sie nicht zur Polizei.“ Drei Tage später musste er seine Ohnmacht eingestehen: Der Papagei war inzwischen zweimal weiterverkauft worden, und der letzte Besitzer, ein Polizeispitzel, konnte nicht belangt werden. Imbal war aufgebracht. In Jaffa ist jeder dritte Mann ein Polizeispitzel, und die Hälfte von ihnen sitzt im Gefängnis. Die Übrigen sehen zu, wie sie durchkommen. Je einflussreicher ein Spitzel, desto rücksichtsloser stiehlt er; seine Macht misst sich daran, wie weit seine Strafimmunität reicht. Ein Durcheinander von Gesetz und Verbrechen, von Denunzianten und Kriminellen kontrolliert Jaffa, schüchtert die Menschen ein, bedroht sie.

Aber Imbal ist dickköpfig, eine Jüdin, sie kennt ihre Rechte und lässt sich von der allgemeinen Schicksalsergebenheit und Unterwerfung nicht anstecken. Sie setzte alle Hebel in Bewegung, alarmierte die Polizei von Tel Aviv, ließ ihre Beziehungen zu einem Minister spielen. Schließlich – der Druck war offensichtlich stark genug – rief das Polizeikommissariat bei ihr an: Sie hätten einen Papagei gefunden, sie solle vorbeikommen und ihn identifizieren. Als sie vor dem Kommissariat ihr Auto parkte, sah sie, wie Polizisten ein zehnjähriges Kind verfolgten. Sie schrie sie an: „Wo ist mein Papagei?“ Sie wolle ihn sofort wiederhaben! Die Polizisten brachen ihre Jagd ab und führten Imbal in ein schlecht beleuchtetes Zimmer. Sobald der Papagei sie sah, rief er: „Ima! Ima!“ – „Mama“ auf Hebräisch. Sie nahm ihn in ihre Hände und weinte. Als sie sich umdrehte, sah sie, dass auch die Polizisten, die gerade noch einen Zehnjährigen hatten schnappen wollen, feuchte Augen bekamen.

Der Strand von Jaffa ist zerklüftet, felsig und heute, am Sabbat, schwarz von Menschen. Das Meer ist bewegt, und die Lautsprecher brüllen auf Arabisch und Hebräisch, dass die Eltern ihre Kinder aus dem Wasser holen sollen. Niemand hört darauf, die Badenden spielen und lachen in den Wellen, klammern sich an Bojen und Luftmatratzen. Auf den Wiesen oberhalb des Strands wird gegrillt und gepicknickt. Essen wird ausgepackt, Wassermelonen werden aufgeschnitten. Manche haben ihre Wasserpfeife dabei.

Samy arbeitet meist zu Hause. Er verdient seinen Lebensunterhalt mit der Erstellung von Websites. Sein Balkon geht auf eine breite Straße, die um neun Uhr abends menschenleer ist. Rechts von ihm wohnt ein hübsches Mädchen aus Sri Lanka, die Miniröcke trägt und von ihrer Mutter mit eiserner Hand bewacht wird. Er würde wahnsinnig gern mit ihr sprechen, aber ihre Mutter lässt sie nie allein. Links von ihm wohnt eine Frau, die immer verschleiert vor die Türe geht. Nur die Augen sind zu sehen – aber was für welche! Er war mehrere Jahre im Ausland, im Westen, dann kam er nach Jaffa zurück. Beim Anblick seiner langen Haare und seiner New Yorker Umgangsformen fragten die Männer aus dem Viertel: „Was hast du nur aus dir gemacht?“ Er hat geantwortet: „Und? Was habt ihr aus euch gemacht?“

Manchmal denkt Samy seufzend an die Frauen in Tel Aviv. Wenn er in den Clubs erzählte, dass er Araber sei, verschwanden die Mädchen nur kurz zur Toilette – und kamen nicht wieder. Nur wenige blieben da. Wenn er das Geld hätte, würde er sofort wieder ins Ausland gehen, egal wohin. Hier ist nichts los, überall Frustration, Langeweile, all die Leute, die ohne Arbeit herumhängen. Er hält es nicht mehr aus.

Er behauptet, dass mehr als die Hälfte der Jugendlichen in Jaffa Drogen nehmen. Heroin, Kokain, Haschisch, Marihuana, man bekommt alles – leichter als Milch. Die Mafia greift um sich, an diesem Punkt verstehen sich Juden und Araber prächtig. „Und wenn ein junger Mann von den Drogen wegkommen will“, sagt Samy, „gibt es die Moschee. Sie verspricht ihm ein tugendhaftes Leben, sie führt ihn auf den rechten Weg zurück, zum Glauben. Das funktioniert, die Kriminalität geht zurück. Ich haue besser ab.“

In „Chic Point“, einem siebenminütigen Videofilm seines Freundes Scharif Waked, einem arabisch-israelischen Künstler aus Haifa, tritt Samy als Darsteller auf. Der Film zeigt eine Modenschau für Männer. Lauter schöne Dressmänner posieren vor der Kamera. Einer zieht an einem Faden in Schulterhöhe, woraufhin das Oberteil, das über den Bauchnabel reicht, wie eine Jalousie hochgezogen wird. Ein anderer öffnet seine Klettverschlüsse, der Dritte löst verschiedene Schnüre. Der Ausgangspunkt des Filmes ist, dass die Polizei einen immer wieder auffordert, das Hemd hochzuheben, um zu beweisen, dass man keinen Sprengstoffgürtel trägt. Dann fallen automatisch auch die Beinkleider. „Chic Point“ wird im Museum für Zeitgenössische Kunst in Herzlia, nördlich von Tel Aviv, gezeigt.

Zahiya lebt mit ihren drei Töchtern in einem kleinen Haus neben dem unsren. Ihr Mann hat sie verlassen, der Sohn, sie schweigt darüber, ist wahrscheinlich im Gefängnis. Sie hat die Jeans gegen den Schleier getauscht. Jeden Abend stellt sie ihre Stühle vor die Tür. Frauen aus der Nachbarschaft setzen sich zu ihr, rauchen und trinken Tee. Zahiya war in Tel Aviv, um für ihre Töchter Schulsachen zu kaufen. Als sie mit ihren Einkaufstüten in den Bus stieg, stiegen die Leute schlagartig aus, sogar der Fahrer lief weg.

Da saß sie nun allein mit ihren beiden Plastiktüten auf dem Schoß und verstand nicht, was passiert war. „Es war eine Frau“, erzählt sie, „ich habe gesehen, wie sie zum Fahrer rannte, und dann haben sich alle nach mir umgedreht. Ich habe auch immer Angst vor Attentaten! Wenn es Bomben gewesen wären, dann wäre ich doch mit explodiert, oder?“ Ihre Frage bleibt im Raum stehen. „Du solltest nicht in diesem Aufzug rausgehen“, sagt Scharif Waked mit einem Lächeln, „du erschreckst die Leute.“

Eine der Frauen erzählt, dass sie die schlechte Idee hatte, 1947 zu heiraten, ein Jahr bevor ihre Familie nach Libanon floh und sie einem Ehemann überließ, der sich im Alltag als ziemlich enttäuschend erwies. Ruthie, eine etwa fünfzigjährige Jüdin mit kurzem, weißem Haar, arbeitet auf dem Flohmarkt. Eine alte Armenierin zieht mich beiseite und flüstert mir ins Ohr: „Trauen Sie ihren schönen Gesichtern nicht. Hier hasst jeder jeden.“ Regelmäßig fahren schnelle Sportwagen vorbei und lassen ihre Motoren aufheulen, Männer in weißen BMWs, Dealer wahrscheinlich, kurven mit dröhnenden Radios durch die Gassen. Die Frauen kennen sie alle, sie haben sie heranwachsen sehen.

Die Enkeltochter spielt auf der Straße mit den Kindern aus der Nachbarschaft, Jungen und Mädchen laufen barfuß herum. Ohne ein Wort Arabisch zu können, schließt sie sich der Bande an, lernt, auf Zuruf der anderen den Autos auszuweichen, lacht und amüsiert sich mit einer Freude und Ungezwungenheit, die wir selten bei ihr erlebt haben. Gestern erst hatte sie sich ein weißes Kleidchen angezogen, um in einem großen Hotel in Tel Aviv eine jüdische Hochzeit mitzufeiern.

Am Ende der Straße stehen weitere Tische und Stühle, abendliche Plauderrunden finden sich ein. Ganz Jaffa genießt die nächtliche Frische. Das ist hier Lebensstil. Wenn man nichts mehr hat, bleibt noch das. Wer vorbeikommt, hält an. Man sagt Guten Tag, tauscht Neuigkeiten aus und gibt sich der Illusion einer glücklichen Dorfgemeinschaft hin. Nur eine Illusion? Wenn man sie fragt, zögern die Leute, dann sagen sie, sie seien tatsächlich ein wenig glücklich. Auch wenn oftmals Ehemänner und Söhne im Gefängnis sind.

Die nächtliche Frische tut gut. Schließlich sind sie hier zu Hause. Die Mädchen fühlen sich etwas freier als anderswo. Als Untertaninnen des Präsidenten Assad von Syrien oder des Königs von Jordanien wären sie nicht unbedingt besser dran.

Jack und Imbal kommen aus dem Urlaub zurück. Jack zeigt uns zwei Postkarten. Auf der einen Karte ist ein Gemälde von Goya zu sehen, auf dem zwei Männer, die, je heftiger sie miteinander kämpfen, desto tiefer im Treibsand versinken. Auf der anderen Karte sieht man ein Foto von Laurel und Hardy mit lachenden Gesichtern und Musikinstrumenten in den Händen. „Da heißt es, festen Boden unter den Füßen zu haben“, sagt er. Wir erzählen von unserem Aufenthalt in ihrem Haus, von den Abenden, den Nachbarn, den barfuß spielenden Kindern. Imbal ist nachdenklich: „Tel Aviv ist inzwischen voller Digicodes und Wachposten. Eine eingesperrte Stadt. In meiner Kindheit bin ich dort barfuß herumgelaufen, so wie heute die arabischen Kinder in Jaffa. Manchmal habe ich das Gefühl, dass sie die Israelis sind.“

deutsch von Claudia Steinitz

* Libanesischer Schriftsteller und Journalist, lebt in Paris. Zuletzt erschien sein Roman über die ägyptische Sängerin Umm Kalsum: „Stern des Orients“, Zürich (Unionsverlag) 1999.