Die Ausgeblendeten erzählen

Ein Terrain, das da ist, aber sich auf keiner Karte findet: Der Künstler Kutlug Ataman zeigt in London seine großartige Filminstallation „Küba“

VON JULIA GROSSE

In den späten Sechzigerjahren begann eine Gruppe linker Rebellen im Nordwesten von Istanbul eine kleine Barackensiedlung zu errichten. Die Frauen und Männer hatten genug vom türkischen System, an dessen Gerechtigkeit sie zweifelten, und machten die Siedlung zu ihrer symbolischen Festung. Ihr autonomes Gebiet von der Größe zweier Fußballfelder nannten sie Küba, ursprünglich vielleicht als Zeichen der Bewunderung für Castros Abschottungspolitik, niemand weiß das heute mehr so genau. Denn längst lebt Küba, von dem selbst viele Istanbuler nicht wissen, wo es ist, von seinem Mythos.

Der Künstler Kutlug Ataman, geboren 1961 in Istanbul und 2004 für den Turnerpreis nominiert, hat sich für sein Interviewprojekt „Küba“ die vergangenen zwei Jahre immer wieder in diesem Niemandsland inmitten der Weltmetropole aufgehalten. Inzwischen hat sich in Küba eine eigenartige Gemeinschaft aus vielen vergessenen Einzelschicksalen gebildet, einige wenige Rebellen von damals sind noch da, müde und desillusioniert; vor allem aber wird Küba heute von vielen Kurden, Arbeitslosen, Kriminellen, Träumern, überarbeiteten Müttern und zornigen Teenagern bewohnt. 40 von ihnen ließ Ataman von sich erzählen, ihr Vertrauen gewann er durch die Hilfe eines Freundes, der dort aufgewachsen war.

Atamans Arbeit, für die er den Carnegie-International-Preis erhielt, wird nun in London von der Kunstinstitution Artangel präsentiert. „Küba“ befindet sich in einem leer stehenden 60er-Jahre-Beton-Koloss der Post, mitten an der Konsummeile New Oxford Street. Niemand will dieses mehrstöckige Monstrum renovieren, und so ist es da und irgendwie auch nicht da, fast ein wenig wie Küba: die Peripherie mitten im Zentrum. Fast zehn Minuten muss man durch die verkommenen Hallen gehen, ehe man schließlich vor dem Schriftzug „Küba“ steht wie vor einer formelhaften Beschwörung. Man öffnet die Tür, und aus einem riesigen, schmutzigen Raum schwappt einem ein ganzes Stimmenmeer entgegen: 40 Kübaner erzählen ihre Geschichte.

Aufgebaut ist diese großartige Filminstallation wie eine Siedlung mit Häusern, denen man Dach und Wände weggenommen hat. Neben- und voreinander in vielen Reihen stehen 40 verschiedene Fernseher auf schäbigen Furnierschränkchen, davor jeweils ein großer Sessel, in dem man sich vorkommt, als säße man plötzlich in den Wohnzimmern dieser Leute. Ataman baut mit dieser Installation aus Geschichten einen bestehenden Ort nach, ähnlich wie bei seiner Turnerpreis-nominierten Arbeit „Twelve“: Dort hingen Leinwände, auf denen schiitische Araber aus einem abgelegenen Gebiet von ihrer Wiedergeburt erzählten. Wie in fast allen seiner Filme zeigt Ataman auch in „Küba“ die Redenden sitzend auf ihren Sofas, an den Wänden hängen Hollywoodposter, Gewehre, kitschige Accessoires. Indem diese 40 Individuen nun einen greifbaren Raum im Ausstellungskontext bekommen, betont Ataman bewusst die reale Existenz dieses Terrains, das auf keiner Karte Istanbuls existiert.

Was Küba nun ist, wird vor allem erfahrbar durch die Stimmen seiner Bewohner, und wer diesen Stimmen zuhören will, der braucht, wie für fast alle Arbeiten Atamans, viel Zeit. In einem seiner ersten Projekte, „semiha b. unplugged“, gibt Ataman einer 87-jährigen türkischen Operndiva mit einem achtstündigen Interview die wohl längste Show ihres traurig-absurden Lebens. Ataman ist fasziniert von alternativen Lebensentwürfen gesellschaftlicher Outsider, den Freaks, türkischen Transsexuellen, oder englischen, obsessiven Orchideenzüchterinnen, letztere Filmarbeit wurde zum Liebling der documenta 11. Doch Ataman geht es nie um eine Ästhetik des Outsidertums, das Sichtbarmachen von Gruppen im Elend. Vielmehr interessiert ihn ihre ganz persönliche Performance, die beginnt, sobald die Kamera läuft und damit eine Bühne für sie geschaffen wird.

„Küba“, das sind 40 verschiedene Geschichten. Die einen behaupten, sie seien die Gründer von Küba, andere kennen die Legenden der frühen Tage nur aus Erzählungen. Die Solidarität von damals ist weg, beklagt ein Alter, die Solidarität sei das Einzige, was Küba bis heute zusammenhalte, meint ein Junger, manche wollen bleiben, andere so schnell wie möglich weg, die jungen Mädchen sind hart und stark, kaum ältere Mutter verängstigt und desillusioniert. „Ich bin nicht glücklich“, sagt eine von ihnen, auf ihren Schultern klettern sechs Kinder. Ein Mann erzählt von seiner Verhaftung wegen Terrorverdachts, ein anderer von seiner Spielsucht und den Schulden, ein Junge prahlt damit, dass er seine Mitschüler schlägt, und eigentlich geht es die ganze Zeit so weiter wie in einem düsteren Buch, in dem die Moral von der Geschicht’ fehlt. Alle nennen sie sich nach wie vor Kübaner und demonstrieren damit fast trotzig ihren verbleibenden Widerstand gegen ein System, das sie ausblendet.

Und wer ausgeblendet wird, der schafft sich seine eigenen Regeln. Kommentare wie „Man denkt, wir sind gefährliche Zigeuner mit Waffen“ oder „Kommst du aus Küba, haben sie Angst vor dir“ machen deutlich, dass es gerade der Mythos Küba ist, der den Bewohnern die meiste Identität, Kraft gibt. Genau an diesem Punkt findet Ataman jenen schmalen Grat, an dem reales Erinnern vor der Kamera umkippt in Mythenerzählungen, in Fiktion. Momente sind das, in denen es quasi aus den Porträtierten heraussprudelt, so als hätten sie ihr ganzes Leben darauf gewartet zu erzählen, von spektakulären Abenteuern, immensen Geldsummen, endlosen Demütigungen, der verlorenen Liebe. „Dennoch weißt du nie, ob auch nur einer von ihnen die Wahrheit erzählt“, sagte Ataman nach dem Dreh und formuliert damit das Problem eines jeden Dokumentarfilms. Kutlug Atamans Arbeiten sind keine Dokumentarfilme, eher agiert er wie ein selbst ernannter Filmdirektor, der Nonkonformisten eine Bühne gibt, auf der sie sich austoben können. „Küba“ ist eine traurige Bühne mit vielen traurigen Akteuren, die, je älter sie sind, nicht einmal mehr Träume haben. Nur noch den Mythos. Was sie alle verbindet, ist eine aus der Not entstandene Solidarität und die Gewissheit, an einem Ort zu leben, den niemand sehen will.

Bis 8. Mai, www.kuba.org.uk. Katalog ca. 30 €; ab 17. Juni ist „Küba“ im Rahmen von Theater der Welt in Stuttgart zu sehen; ab September auf der Istanbul Biennale