Das Lexikon der Zusammenarbeit

Nicht nach Aktivismus aussehen und doch aktiv sein: Im Surferparadies Tarifa an der spanischen Südspitze trafen sich vergangene Woche 150 Künstler, Theoretiker und Performer zur „Borderline Academy“, einer Mischung aus Grenzcamp und Festival, Begriffsbildungssitzung und Strandurlaub

Je nachdem, wer von welchem Strand auf die andere Seite schaut, heißt die Bewegung Tourismus oder Migration

VON ANNETT BUSCH

Nur neunzehn Kilometer schillerndes Blau liegen zwischen dem spanischen Tarifa und Tanger, zwischen Europa und Afrika, dahinter zeichnen sich die vagen Umrisse des jeweiligen Kontinents ab. Und je nachdem wer von welchem Strand auf die andere Seite schaut, erfordert es unterschiedlichen Aufwand, Gefahr und Kosten, die eigene Reiselust zu befriedigen. Je nachdem heißt die Bewegung dann Tourismus oder Migration.

Borderline Academy/Fadaiat nennt sich die Veranstaltung, deren Teilnehmer sich vergangene Woche in den uralten Steinmauern im Castle Guzmán el Bueno trafen, direkt am Meer, in Tarifa, Stadt der ewigen Winde und Surferparadies. Rund 150 Aktivisten, Künstler, Theoretiker, Architekten und Performer aus ganz Europa mit ihren Laptops, Digitalkameras und Schnittprogrammen versammelten sich für diese Fortsetzung des „Neuro-Networking Europe“-Kongresses, der letztes Jahr im Februar in München stattfand und wie die Borderline Academy Teil eines EU-Vernetzungsprojekts namens D-A-S-H war.

„Borderline“ – tatsächlich passt der Refrain von Madonnas Ohrwurm gut in die dunstig verführerische Meerenge: „I am losing my mind … keep on pushing my mind over the borderline … stop driving me away … I just wanna stay.“ Um solch trügerische Bilder in den Griff zu bekommen und um für all das Nichtsichtbare eine Form zu finden, für den Traffic, die Zahl der Toten, die Hightech-Überwachung, hat man wohl das derzeit so beliebte „Mapping“ erfunden. Kaum ein Workshop, der nicht früher oder später darauf zurückkommt.

Das Potenzial der zweidimensionalen Repräsentation von Raum stand im Vortrag der Architekten Phil Misselwitz und Tiem Rienets allerdings noch in einem völlig anderen Kontext. Am Eröffnungsabend stellten die beiden ihr Projekt der „Borderline Geographies“ vor, eine Kollaboration deutscher, israelischer und palästinensischer Studenten, die zusammen den Ostteil Jerusalems als Karte darstellen sollten. Unter anderem kam hier der therapeutische Effekt mit ins Spiel, wie hilfreich es sein kann, wenn die Studenten anhand einer konkreten Karte gezwungen sind, eine Einigung zu erzielen.

Die für Neuro bereits entwickelte Idee, ein Festival ohne Zuschauer zu inszenieren, eine Veranstaltung, während der jeder den Raum hat, Akteur, Teilnehmer und Entwickler gleichermaßen zu sein, trieben die Kuratoren und Projektleiter Susanne Lang und Florian Schneider in Zusammenarbeit mit den Kollegen von der spanischen Gruppe Fadaiat einige Schritte weiter. Es ging eben nicht darum, die bei jedem Spektakel gezielt kognitive Überforderung zu produzieren, mit einer nicht zu bewältigenden Dichte an Musik, Filmen und Vorträgen den Eindruck zu erwecken, dass sich stets da die interessanteren Dinge ereignen, wo man gerade nicht ist. Es ging auch nicht um Talentschau – eher passt der Begriff des Laboratoriums. Einen angemessenen Rahmen zu schaffen, um herauszufinden, wie es weitergeht, worin das Neue eines Gedankens bestehen könnte oder die Notwendigkeit eines weiteren Projekts. Unbehaglicher Leerlauf und exzessives Reden, eine Unterbrechung am Strand und ein Ad-hoc-Deleuze-Seminar in der Nacht – aufgegangen ist das Ziel, eine Dynamik zu kreieren, die sich nach den jeweiligen Bedürfnissen und nicht nach einem strikten Zeitplan richtete.

Der Choreograf Marten Spangberg wies vom ersten Moment an darauf hin, dass der Ort und die (Selbst-)Inszenierung vor Ort nicht minder von Bedeutung seien als jede inhaltliche Diskussion. Dass das Mögliche nur aus der gegebenen Möglichkeit entstehe.

Selbstverständlich war der Ort, der interkontinentale Schnittpunkt gezielt gewählt und das, was virtuell und konkret über die Meerenge hinweg zwischen Tarifa und Tanger möglich sein könnte, noch lange nicht ausgeschöpft. Gleichzeitig dürfte es kein Zufall sein, dass nach zwei Jahren systematischer Vernetzungsarbeit mit D-A-S-H Schneider und Lang die theoretische Reflexion über die Potenziale und Grenzen der Zusammenarbeit vorangetrieben haben.

Mit der möglichst präzisen Unterscheidung der Begriffe wie Kooperation und Kollaboration, Organisation und Networking trafen sie dabei ins Schwarze einer bisher nur diffus wahrgenommenen Krise der vernetzend arbeitenden Multitude. Als den entscheidenden Link zwischen den jeweiligen Modellen machen beide – selbstverständlich auf unterschiedliche Weise – die Lust an der Differenz aus, als treibende Kraft wider einen zentral organisierten Willen.

Doch nicht allein das Lexikon der Zusammenarbeit ist eröffnet. So virulent es scheint, sich über die unterschiedlichsten Modelle der Wissensvermittlung Gedanken zu machen, so mag es überhaupt wieder an der Zeit sein, Wörter und Begriffe näher zu bestimmen. Nicht nur als Antwort auf die mäandernde Debatte um die Prekarisierung, die oft weniger dazu dient, die jeweils ungesicherten Verhältnisse offen zu legen. Mit ein und demselben Wörtchen, nämlich „prekär“, nivelliert sie oft eher die Unterschiede zwischen den ungesicherten Lebensverhältnissen der Kulturschaffenden und MigrantInnen. Der wie beiläufig dahingeworfene Satzanfang „now in precarity“ hatte daher die besten Chancen zum geflügelten Wort der Konferenz zu werden. Und möglicherweise hat sich die Idee des Laboratoriums am besten in der Ad-hoc-Academy manifestiert. Von einem Tag auf den anderen wurde eine vierstündige ABC-Session auf die Beine gestellt: von Chinification bis Union, über Collectivity, Definition, Digital Orientalism, Hollywood, Leftism and the Left, Maps and Cartography, Neurope, Net Cynicism, Piracy, Psychic Property, Sharing, Singularity, Takeover. Und das wird mit Sicherheit erst ein Anfang sein.

Am Ende bleibt erneut und immer wieder die schwierigste aller Fragen: „Was tun?“ Es passte, dass eine der Antworten von einer Seite kam, die sich selbst als unpolitisch bezeichnet, der Choreograf Spangberg: „Not to look like Activism and being active.“

www.borderlineacademy.org, www.fadaiat.net