Todesschuss-Politik ist nicht zu rechtfertigen
: KOMMENTAR VON CHRISTIAN RATH

Es ist gefährlich geworden in der Londoner U-Bahn. Erst die Anschläge, jetzt die vorsorgliche Tötung eines unschuldigen Brasilianers. Die Terroristen töten wahllos, die Polizisten hatten zumindest Indizien dafür, dass es sich um einen Selbstmordattentäter handeln könnte. Er kam aus einem verdächtigen Haus, er flüchtete vor der Polizei, er hatte dunkle Haare, und er trug einen für Sommer untypischen weiten Mantel.

Doch schon die Aufzählung dieser Indizien zeigt, dass sie nie und nimmer dazu führen durften, den Mann zu erschießen. Selbst die seit einigen Jahren geltende Shoot-to-kill-Doktrin der Londoner Polizei konnte dies auf keinen Fall rechtfertigen. Danach sollen Polizisten, wenn sie sicher sind, einen Selbstmordattentäter vor sich zu haben, diesen sofort töten. Wie aber kann man bei so vagen Verdachtsmomenten sicher sein?

Natürlich ist es moralisch zu rechtfertigen, einen Selbstmordattentäter zu erschießen, bevor er eine voll besetzte U-Bahn in die Luft jagen kann. Doch woher weiß denn die Polizei, wer eine Bombe bei sich trägt? Der tragische Tod des 27-jährigen Brasilianers macht deutlich, dass eine Politik des Todesschusses gerade gegen vermeintliche Selbstmordattentäter nicht zulässig sein darf. Weil alles so schnell gehen muss, kann die Polizei eben nie sicher sein.

Dabei geht es nicht nur um die sinnlosen unschuldigen Opfer. Es geht auch darum, ethnisch geprägte Unruhen zu verhindern. Denn die Opfer solcher Todesschüsse werden in aller Regel nicht blond sein, sondern nordafrikanisch oder pakistanisch aussehen. Nur durch Zufall haben die Kugeln diesmal einen Brasilianer und keinen Muslim getroffen – sonst wäre es vermutlich schon jetzt zu Rebellionen in muslimisch geprägten Stadtteilen gekommen.

Bei aller Kritik an der Londoner Polizei muss allerdings klar sein: Schuld an dieser Zuspitzung sind auch die Selbstmordattentäter, ihre Hintermänner und alle, die solche Anschläge für ein zulässiges Kampfmittel halten. Gerade weil hier wahllos Unschuldige in einem völlig alltäglichen Kontext ermordet werden, weil hier ein U-Bahn-Passagier sich und seine Mitreisenden in die Luft sprengt, steigt die Gefahr, dass auch polizeiliche Gegenmaßnahmen völlig unschuldige Menschen treffen.