Dostoprimetschatjelnosti in Hellersdorf

In Hellersdorf beginnt ein Selbstversuch – urbanes Leben im Plattenbau. Eine Sommer lang ist ein Elfgeschosser Außenstelle der Kunsthochschule Weißensee. Die jungen Neuankömmlinge aus den Gründerzeitvierteln entdecken die moderne Siedlung und träumen von einer Piazza im sechsten Stock

Wie verteilt man vier Kilo Schlüssel auf 99 Zimmer, ohne dass es zum Chaos kommt?

von TINA VEIHELMANN

An der Hellersdorfer Straße 173 sind zwei Schriftzüge angebracht. Ein bisschen verschossen ist zu lesen: „Bezirksamt“. Darunter wirbt ein Schild in den Farben Pink und Hellgrün für: „Dostoprimetschatjelnosti“, deutsch: „Sehenswürdigkeiten“. Derart selbstbewusst macht ein Hochhaus auf sich aufmerksam – mit feldmausfarbenen Betonplatten, elf Geschosse hoch. An seinem Sockelgeschoss reflektieren silbergraue Graffiti die Abendsonne. Weithin sichtbar ist es – unbestritten. Denn sämtliche Nachbarhäuser, die je sechs Etagen hoch sind, überragt der Turm bei weitem.

Doch ob das Hochhaus die letzten Jahre über unbedingt eine Sehenswürdigkeit war, darüber sind die Hellersdorfer geteilter Meinung. Seit 1998 das Bezirksamt auszog, das vorübergehend in den Wohnhäusern 173 und 175 untergebracht war, haben die Zwillingshäuser keine Mieter mehr gesehen. Die Fenster im Erdgeschoss wurden mit Eisengittern verschraubt, Wasser und Strom abgestellt. Ein leeres Gehäuse, abends brannte in je 99 Räumen abends kein einziges Licht.

Vielleicht war das der Grund, weshalb gleich am ersten Abend, als die ersten Menschen nach vier Jahren wieder das Licht anknipsten, sofort die Polizei zur Stelle war. Allerdings musste sie feststellen, dass – rein rechtlich gesehen – alles in Ordnung war. Im dritten Stock saß eine Hand voll Leute zwischen Kisten, Kästen und Taschen bei Glühbirnenlicht und konnten einwandfrei nachweisen, dass der Eigentümer mit dem „Hausfriedensbruch“ einverstanden war.

Acht Monate lang hatten Steffen Schuhmann, Axel Watzke und Christian Lagé, drei Studenten der Kunsthochschule Weißensee mit der Hausverwaltung, mit Behörden und Gremien verhandelt. Nun ist das Hochhaus vorübergehend zur offiziellen Außenstelle der Berliner Kunsthochschule Weißensee deklariert. Für einen Sommer wird der WBS 70 zum Experimentierfeld. „Was lässt sich mit der Platte anfangen?“, lautet die Frage.

„Dostoprimetschatjelnosti“ ist ein Selbstversuch, dessen Probanden die Initiatoren international rekrutiert haben. 140 junge Architekten, Stadtplaner, Designer und Künstler bekundeten Interesse am Plattenbau – aus Ländern von Argentinien, über Bratislava bis Novosibirsk. 45 von ihnen sind jetzt in Hellersdorf. „Vom elften Stock aus werden wir an der Schnittstelle zwischen Ost- und Westeuropa eine überraschende Sicht auf Berlin und neue Perspektiven für Großsiedlungen und Plattenbauvororte gewinnen“, schreiben die Organisatoren. Diese Siedlungen seien gemeinsamer Nenner europäischer Großstädte, ob Amsterdam, Kiew, Paris oder Warschau.

Zum ersten Mal seit vier Jahren hört das Treppenhaus der Nummer 173 jetzt wieder Schritte. Die Eisenplatten vorm Eingang sind abgeschraubt, die Tür steht offen. Möbel und Kisten werden das Treppenhaus hinaufgewuchtet. Eine sperrige Kommode muss in den zehnten Stock – leider ist der Aufzug außer Betrieb. Beliebt sind Zimmer mit funktionierenden Toiletten und weiter Sicht. Die Lichtschalter in den Bädern ohne Außenwand summen, wenn man sie niederdrückt, und es klackt, wenn das Licht angeht. Es hallt, wenn man spricht.

Gabriella und Ariel aus Argentinien überblicken vom achten Stock aus ein gutes Stück Hellersdorf. „Bei uns sehen solche Vorstädte völlig anders aus“, erklärt Ariel, öffnet das Fenster und weist auf die Sechsgeschosser mit den üppigen Blumenrabatten auf den Balkonen. „Eine utopische Idee, die hinter diesen Siedlungen steckt“, fügt er hinzu. Es interessiere ihn, was daraus geworden ist. Er erzählt von Ciudad Evita, einer „alten“ Neubausiedlung in Buenos Aires, die aus Vogelperspektive die Züge der berühmten Präsidentengattin zeigt. Ciudad Evita sei heute völlig heruntergekommen, sagen die Argentinier. Es herrsche ein Kleinkrieg zwischen Vermietern und illegalen Bewohnern. Gewalt und Razzien seien an der Tagesordnung. Beide sind überrascht, dass Hellersdorf so ruhig, so sauber ist.

Moderne Großsiedlungen stünden heute – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß – vor ähnlichen Schwierigkeiten, meint Organisator Schuhmann. Die Monokultur an Wohnen, die die Trabantenstädte hervorgebracht haben, ist allgemein in die Kritik geraten. „Doch warum eigentlich, sollten öffentliche Räume nicht auch im Wohnhochhaus möglich sein?“, fragt Schuhmann. Die Dreifaltigkeit der Mischnutzungen Leben, Arbeiten und Kultur – die laut Glaubensbekenntnis der Urbanisten eine Stadt lebendig macht – warum sollte die nicht auch im Plattenbau funktionieren. Hat schon mal jemand über eine Piazza im sechsten Stock nachgedacht?

Die Architekten, Designer, Fotografen und Filmemacher wollen es einen Sommer lang ausprobieren. Sie verlegen ihren Wohnsitz ins Hochhaus und bringen gleichzeitig alles mit, womit sie im Alltag arbeiten. Was als reines Wohnhaus gebaut wurde, soll Fotolabors, Tonstudios und Schnittplätze beherbergen. Für eine Gemeinschaftsetage haben die neuen Bewohner Trennwände niedergerissen. Bisher stehen mehrere Couchgarnituren darin und ein Putzeimer mit Scheuerlappen. In einer Kulturetage soll es Theater, Ausstellungen, Kino und Cafébetrieb geben.

Die Dreifaltigkeit der Mischnutzungen Leben, Arbeitenund Kultur

„Das Pikante ist“, erzählt eine Neubewohner – „dass die Hellersdorfer 173 zwar als Wohnhaus konzipiert ist, aber schon einmal gründlich zweckentfremdet wurde.“ Als das Hellersdorfer Bezirksamt hier untergebracht war, hatten sämtliche Sachbearbeiter eigene Wohnungen – mit Küche und Badezimmer inklusive Wanne. In den Zimmern liegen heute noch Notizzettel wie: „Bitte in der Wohnung 0902 melden. Dort befindet sich die Vertretung für Frau Bergmann.“

Eine junge Frau, die im Block gegenüber wohnt, hat eine Broschüre von „Dostoprimetschatjelnosti“ in ihrem Briefkasten gefunden. „Was könnte Sie wieder in diese Häuser locken?“, fragen die Künstler, die sich mit dem Schreiben der Nachbarschaft vorstellen. Die Frau lacht und zuckt die Achseln. Doch ein 17-Jähriger, der im Hof Basketball spielt, hat eine Idee: „Ein Arbeitsamt!“ Arbeitsämter brauche man doch immer. Andere in seinem Alter schlagen vor, irgendetwas in den Bauten unterzubringen, das die Langeweile vertreibt. „Abgefahren, dass da jemand einzieht“, urteilt der Basketballspieler „Ich hätte gedacht, dass sie die Hütte irgendwann abreißen“, meint er. Wäre schade drum. Sieht doch gut aus, der Turm – und ist das einzige richtige Hochhaus weit und breit.

Die Zwillingshäuser 173 und 175 sind, nebenbei bemerkt, auch die einzigen komplett leer stehenden Häuser in der Gegend. Hellersdorf ist keineswegs ein Ghetto, mit dahinrottenden Betonburgen. Viele der Sechsgeschosser sind anspruchsvoll saniert, mit südamerikanischen Kacheln oder brasilianischen Holzloggien – Präsentierstücke der Expo 2000. Dennoch hat der Bezirk Probleme: mit Leerstand und mit Abwanderung. 125.000 Menschen leben hier.

Mitte der Achtzigerjahre wurde hier eine der größten Plattenbausiedlungen buchstäblich aus dem Acker gestampft – eine Schlafstadt mit Fußgängerzone. Nach der Wende sollte die „Stadtwerdung“ von Hellersdorf nachgeholt werden. Ein Stadtzentrum wurde dazuerfunden: Die „Helle Mitte“ – mit Geschäften, Multiplexkino und Ärztehaus. Die Expo 2000 verschrieb sich demselben Ziel. Doch noch heute ist der Anteil gewerblicher Nutzungen verschwindend gering. Die meisten Bewohner arbeiten außerhalb.

In der „Hellen Mitte“ gehen die Jugendlichen nachmittags shoppen. Hellersdorf hat viele Jugendliche – die Kinder der jungen Familien, die vor 15 Jahren hierher gezogen sind. Diese Schüler gehen hier ins Kino und fahren mit ihren Fahrrädern herum. Doch so richtig spannend finden sie es nicht. Die meisten werden irgendwo anders einen Job finden, wenn sie aus dem Haus gehen.

Gleichzeitig wandert noch eine andere Klientel ab. Fragt man in Hellersdorf Passanten: „Was täten Sie mit einem Lottogewinn?“, erhält man erstaunlich oft die spontane Antwort: Ein Haus bauen. „Eigentlich habe ich immer gerne hier gewohnt“, sagt eine Mutter, die mit ihrer kleinen Tochter spazieren geht. „Weil es ruhig ist und viel Grün gibt.“ In nächster Nähe liegen das Wuhletal und die Parkanlage Kienberg. Doch inzwischen kann sich die Familie ein eigenes Haus in Kaulsdorf leisten. Demnächst werden sie umziehen.

Leerstände gebe es in allen Miethäusern, erklärt Ralf Protz vom „Kompetenzzentrum Großsiedlungen Marzahn/Hellersdorf“. Nicht nur in den Plattenbauten, sondern auch in anderen Gebäuden. Dennoch kämpft die Platte um ihre Mieter. In den Beständen der Wohnungsbaugesellschaft Hellersdorf (WoGeHe) liegt die Leerstandsquote bei 14 Prozent.

Eine überraschende Sicht auf Berlin bietet neue Perspektiven für Großsiedlungen

„Dostoprimetschatjelnosti“ hat daher eine Reihe von Unterstützern gefunden. Von der Eigentümerin „Münchener Baugesellschaft“, die die Studenten gratis wohnen lässt, bis hin zur „Plattform Hellersdorf, Marzahn“ der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, die das Projekt fördert. Auch Karin Büttner vom Wohnstandortmarketing Hellersdorf – ein Runder Tisch ansässiger Wohnungsbaugesellschaften – begrüßt „Dostoprimetschatjelnosti“ als Anziehungspunkt für jüngere Leute. Nur hätte sie es lieber gesehen, wenn das Projekt langfristig angelegt wäre. Ein Sommer sei zu kurz für den Aufwand, den die Zwischennutzer betrieben. Und was werde dann aus dem Block? Doch „für die Zukunft“, meint der Sprecher der WoGeHe „zielt das Konzept Wohnen und Arbeiten in die richtige Richtung“.

Doch im Moment drängen sich im Punkthochhaus Nummer 173 noch profanere Probleme auf. Wie repariert man Toilettenspülungen? Und: Wie verteilt man vier Kilo Schlüsselbunde auf 99 Zimmer, ohne dass es zum totalen Chaos kommt? Und wer macht die Küche sauber?

Moritz, ein Malereistudent aus Prenzlauer Berg, gesteht, dass die erste Zeit hier hauptsächlich anstrengend sei. Neben allen hehren Zielen sei es eben auch ein Wohnprojekt, mit allen Schwierigkeiten, die kollektives Leben so mit sich bringt. Nur, dass die Kulisse diesmal anders ist. Ringsum nicht Gründerzeit, sondern Plattenbau.

Doch die Vorhut der Künstler im Plattenbau habe auch einen unerwarteten umgekehrten Effekt: Nicht nur sie bringen etwas mit, das bisher eher in der Innenstadt stattgefunden hat, sondern auch die Neuankömmlinge entdecken die moderne Siedlung. Wider Erwarten könne er dem Neubau und der aufgelockerten Architektur langsam etwas abgewinnen, erzählt Moritz. „Weniger streng, als die Fassadenfronten der Gründerzeithäuser“, sagt er. Hellersdorf habe – sozusagen – eine Dimension mehr als Prenzlauer Berg.