Das Bügelbrett wird zum Tresen

■ Was mit dem Secondhand-Charme einer Wohngemeinschaft daherkommt, ist Teil einer Mode, der Berliner Wohnzimmerbewegung. Die Lieblingslocations finden sich im heruntergekommenen Friedrichshain

Salatkopfgroße Mohnblumen überall. Auf die schwüle Tapete des engen Thekenraums ist die 23jährige Barfrau Steffi besonders stolz. Die Wand schreckt höchstens Neulinge.

In dem rotbeleuchteten Zimmerchen drängen sich etwa 15 Gäste und wollen mit selbsterfundenen Erfrischungsgetränken versorgt werden. Wegen der Tapete hat Steffi die Wohnung im dritten Stock eines maroden Hinterhauses in Berlin-Friedrichshain „Poppy- Bar“ getauft und serviert Mohnkuchen. Im verrauchten Nebenzimmer legt eine Frau in Kapuzenpulli elektronische Musik auf. Auf einem Sperrmüllsofa eine Kurzhaarige mit Anorak. Neben ihr ein alter Schwarzweißfernseher, der Bilder, aber keine Töne von sich gibt. Vor den Fenstern Gardinen im ungarischen Folklorestil. Zu Flohmarktplatten, Couchtisch'n'Chips tanzen junge Menschen in Turnschuhen und Cordjacketts zwei Stock tiefer im „love lite“. Hinter einer silbern gestrichenen Tür im Erdgeschoß finden Eingeweihte die „no smoking“-Bar.

Was mit Secondhand-WG- Charme daherkommt, ist Teil einer Mode, der Wohnzimmerbewegung. Ihren Ausdruck findet sie in mindestens 20 illegalen Bars in Berlin. Steffi, Hausherrin der „Poppy-Bar“, erklärt das so: „Weil immer mehr Fabriketagen in teure Lofts umgewandelt werden und so als Partyorte nicht mehr zur Verfügung stehen, eignet man sich eben Wohnungen als Ausgehmöglichkeit an.“ Lieblingsbezirk des Wohnungsbarkults ist der Ostberliner Innenstadtbezirk Friedrichshain. Leere Wohnhäuser gibt es dort genug. Bis die renoviert werden, ist Zeit für einen Do-it-yourself-Barbetrieb. Ein paar Flyer malen, Mundpropaganda, und der Laden ist voll.

Betreiber der drei Nachtlokale in der Danneckerstraße 16 ist der Verein „Sterbehilfe für Berliner Häuser e.V.“, der im Mai gegründet wurde. Das weitgehend leerstehende Haus wurde dem Verein von den Eigentümern bis zur Sanierung zur Verfügung gestellt. Die zwölf Vereinsmitglieder — Studenten und freischaffende Künstler — führen das Barzentrum nur einige Wochen. Dann ziehen sie weiter, um neue Lokalitäten zu akquirieren. Dabei geht es nicht nur um die Party. Barbetreiberin Steffi: „Auf den Wandel der Metropole kann man nur aufmerksam machen, indem man sich mit den Orten der Veränderung auseinandersetzt.“ Sie will auf das Verschwinden alter Spuren, wie Mohnblumentapeten, hinweisen.

Vater der Wohnzimmerbewegung ist Karel Duba. Der 31jährige unterhielt schon vor knapp drei Jahren in seiner Wohnung eine Bar. Weil es in Friedrichshain „nichts gab, was mich interessierte“, wie er sagt. Mittlerweile ist der Künstler schon oft mit seinem Nachtlokal umgezogen. Immer dabei: das Plastik-Hirschgeweih aus dem türkischen Import-Export- Laden und zwei Plattenspieler. Viele Besucher begrüßt er per Handschlag, nicht alle kennt er. Später, wenn die Gäste weg sind, legt er zum Schlafen eine Matratze hinter die Theke. Stammgast Reimund Spitzer beschreibt die Liebenswürdigkeit der Wohnzimmerlokale so: „Weil man da den Wirt in seiner Küche rumhantieren hat, ist viel weniger Distanz da. Man sieht dem Gastgeber direkt auf die Pantoffeln.“

Diese Form der Erlebnisgastronomie betreibt auch „Joe Tabu“, alias Florian Dietz, seit geraumer Zeit. Einmal im Monat wird in der Wohnung des 27jährigen Theologiestudenten das Bügelbrett vor der Küchentür zum Tresen, der Erker im Wohnzimmer zur Konzertbühne. Das Bier kostet zwei Mark, wer klingelt und ein paar Mark Eintritt zahlt, kommt rein. Während die meisten Privatbars nur wenige Wochen existieren, gehört er in der flüchtigen Szene zum festen Inventar. Höhepunkt im Kalender der Wohnzimmergemeinde ist die „Hausfrau im Schacht“, eine Konzertreihe, die „Joe Tabu“ in anderer Leute Wohnungen organisiert. Eine Idee, mit der er im Sommer beim Musiksender VIVA gelandet ist. Mittlerweile ist auch ein Sampler der Bands als „Musik fürs Wohnzimmer“ erschienen. Stehlampen gehören bei MTV längst zur Kulisse.

Wohnzimmer-Oldtimer Karel Duba beobachtet die fernsehtaugliche Kommerzialisierung mit Skepsis. Wohnzimmer sind für ihn kein Warenname, sondern ein konkreter Ort. „Da wird geschlagen, vergewaltigt und gemordet. Wohnzimmer beinhalten die ganze Palette unseres verschissenen Lebens“, sagt er.

Von derlei Gewaltausbrüchen ist beim Kehraus in der „Poppy- Bar“ nichts zu spüren. Statt Mord und Totschlag ist Nettigkeit angesagt. Der letzte Gast, die Anorakfrau, trägt morgens um vier die leeren Gläser zur Theke. „Man ist zwar nicht eingeladen, aber auch mehr als nur Kneipengast“, sagt sie und chauffiert die Gastgeberin in ihrem Auto nach Hause. Kirsten Küppers