Das innere Wohnzimmer

Tischdeckchen, Teppich, Stehlampe, Salzstangen: Nach Jahren des Bum, Bum und nochmals Bum probieren's junge Berliner Mitmenschen zur Abwechslung mal mit Gemütlichkeit. Ein privatistisches Manifest gibt es bereits. Musik zum Thema auch  ■ Von Gunnar Lützow

„Als ich an der Highschool war“, seufzt der aus Smalltown, Pennsylvania, nach Berlin, Germany, übergesiedelte John und verdreht die Augen, „habe ich Football gespielt. Eine harte Sache – aber nichts gegen das hier.“ Das hier liegt im Prenzlauer Berg, ist ein Wohnzimmer und überprüft gerade seine maximale Kapazität. Eine Band mit Anlage, ein Kamerateam und fünfzig Gäste sollten wohl reichen. Oder nicht? Draußen im Flur warten noch dreißig, und im Treppenhaus stehen auch noch welche. Dennoch geht es insgesamt erstaunlich gemütlich zu – insbesondere für Berliner Verhältnisse.

Denn Berlin war bisher eigentlich der Ort, an dem dunkle Techno-Tresore, noch viel dunklere Gabba-Bunker und gigantische Massen-Raves im Tiergarten den Beat vorlegten: Schneller, lauter, härter und vor allem: mehr! hieß die Parole. Doch nun, da das Bum, Bum auch die letzte Spreegurke aus den umliegenden Wäldern gelockt hat, drehen einige den Spieß um. Privat ist nämlich wieder modern – und gemütlich sowieso.

„Wohnung“ heißt die Berliner Band, über die sie alle reden, und die in Friedrichshain gelegene Wohnungsgalerie und -bar des Künstlers Karel Duba erfreut sich regen Besuchs. Dazu haben in den gerne frequentierten Clubs plüschige Ohrensessel das kalte Stahlgestänge verdrängt – und einer der derzeit besonders geschätzten heißt auch noch „Privat Club“.

Den lokalen Gemütlichkeitsrekord halten indes Jovanka von Willsdorf und Niels Lorenz, die gemeinsam als „Quarks“ an einer Fusion von aktueller Elektronik, gefühlvollen Texten und zeitlosem Lo-Fi-Charme basteln. Wenn sie irgendwo auftreten, dann sind die Tische mit adretten Deckchen gedeckt und mit Keksen versorgt, und auf der Bühne taucht eine Wohnzimmerlampe die Welt in ein mildes Licht. Ihr erstes Album heißt natürlich „Zuhause“ und wurde im eigenen Wohnzimmer aufgenommen. Wie kommt hauptstädtisches Szene-Volk, das sich ja traditionell doch an möglichst unwirtlichen oder gar verrufenen Orten feiert, auf einen so niedlichen Trip?

Jovanka von Willsdorf: „Es geht uns dabei um das innere Wohnzimmer. Ich kann besser zuhören, wenn ich mich wohl fühle. Wenn ich zwischen lauter Leuten stehe, die mich anrempeln, kann ich gar nichts genießen.“

Kohleofen – pro und contra

Das ging nicht nur ihr so, weswegen fernab der großen Hallen eine kleine, auf Exklusivität bedachte Do-it-yourself-Szene entstand. „Angefangen hat es, als vor anderthalb Jahren unser Freund Joe Tabu kleine Konzerte und komische Lesungen in seinem Wohnzimmer veranstaltet hat“, meint Jovanka. „Da kamen dann Leute, die wirklich interessiert waren, und trafen sich in privater Atmosphäre. Unsere ersten fünf Stücke haben wir dort aufgeführt, und wir waren erstaunt, wie liebevoll unsere Musik aufgenommen wurde. Sie ist nämlich sehr zart, und wenn man ihr nicht zuhört, geht sie gleich wieder zur Tür raus.“ Die angenehme Atmosphäre gefiel den beiden dann so gut, daß sie fortan ihr eigenes Wohnzimmer inklusive Keksen und Tischdecken auf Tour mitnahmen: Teppich, Stehlampe und „sie“, die große goldene Antenne.

Mit ihrem Bedürfnis nach sympathischer Umgebung sind die Quarks auch jenseits von Berlin nicht allein. Im März traf sich ein bunter und bundesweiter Haufen Homerecording-Aktivisten im schwer überfüllten Prenzlauer- Berg-Wohnzimmer von Joe Tabu, dessen erste Konzertreihe den rätselhaften Titel „Hausfrau im Schacht“ trug.

Ein eigenes Manifest zum Thema hat er ebenfalls verfaßt. Das hat es in sich: Er bekennt, niemals Punk gewesen zu sein und seine letzte Band aufgelöst zu haben, da er keine Lust mehr hatte, in punkmäßig verunzierten Backstage-Räumen herumzusitzen. Bevor er sich einen Proberaum mit einer U2-Coverband teilt, sitzt er lieber daheim und bastelt an Stücken, die „Fußkalt“ oder „Kohleofen – pro und contra“ heißen.

Die Konzertreihe war allerdings so erfolgreich, daß sich bei Joe Tabu, der bürgerlich Florian Dietz heißt, nach den Musikinteressierten schnell die Szene-Hopper einstellten. Schließlich verirrten sich sogar Gäste einer anderen Party bei ihm und nahmen obendrein die Kasse mit – weswegen der 27jährige Theologiestudent derzeit für die Zukunft neue Veranstaltungsformen in leerstehenden Häusern durchdenkt.

Rares Vinyl von Wim Thoelke

Doch vorher wird das neue Privatisieren im Kollektiv sich voraussichtlich weiter popularisieren. Und einige alte Ideale in neuem Gewand wiederaufleben lassen. „Die Gemeinsamkeit der Beteiligten liegt im Agieren gegen die große Pose. Es ist höchst unwichtig, sich auf der Bühne zu zelebrieren. Ich habe festgestellt, daß ich keinen Spaß daran habe, eine laute Gitarre zu spielen und die Gefühle eines Rockers in mir aufleben lassen zu müssen“, berichtet der durch seine Erfahrungen mit dem großen Musikbiz geläuterte Homerecorder, dessen umfangreiche Tonträgersammlung sowohl rares Vinyl von Wim Thoelke als auch die gelbe Single-Box von Pere Ubu und ein Tape vom „Treffen Junger Liedermacher 87“ zieren.

Ähnlich wild ist die Zusammenstellung der aktuellen Compilation „Musik fürs Wohnzimmer – 22 Klangbeispiele in Zimmerlautstärke“. Von Klaus Beyer, dem Kreuzberger fünften Beatle, über den Kölner Elektronikbastler Schlammpeitziger und die diesmal den Basement-Blues schiebenden Quarks bis hin zum radikalen Tape-Tauscher Harald „Sack“ Ziegler sind alle dabei, die in absolut keine Schublade passen. Ziegler übrigens liefert mit „Sportunterricht“ nach Tocotronic und dem Reclam-Autor Stefan Beuse einen weiteren Beitrag zum immergrünen Thema „Als letzter auf der Bank“ und deutet an, wobei es außer dem guten Gefühl, kein' Bock auf Rock zu haben, noch gehen könnte. Das Neunziger-Clubleben sieht nämlich zwar im Fernsehen gut aus, fordert aber dummerweise inzwischen von jedem, der die Zwanzig überschritten hat, nicht nur einen durchtrainierten Körper und ein durchgeplantes Outfit – ohne Chemie geht da kaum noch was.

Ist das Wohnungsding also der stille Aufstand der gemächlichen Brillenträger mit Hang zum Obskuren gegen die Diktatur der schnellen, schönen Turbo-Bodys? Und wenn ja, wie läßt sich ohne Beelzebub Gerechtigkeit wiederherstellen? Die Türpolitik des Friedrichshainer Wohnungsgaleristen, Wohnungsbarbetreibers und Künstlers Karel Duba kennt jedenfalls vorerst nur zwei Ausschlußkriterien: Hooligans auf der Suche nach Jim-Beam-Cola und Profitrinker müssen leider draußen bleiben. Und, wie sein Geschäftspartner Oliver Dahmke ergänzt, „Jungjournalisten und Karrieresimulanten“. Den 26jährigen Studenten der Kulturwissenschaften nervt an der Clubszene in Mitte die zunehmende Kommerzialisierung und Professionalisierung. Derzeit sind, wie Karel Duba berichtet, gerade illegale Partys bei Herrn und Frau Schickimicki beliebt. Lange wird die Friedrichshainer Idylle aber auch nicht währen. Nach den ersten Artikeln über die angesagte „neue Mitte“ (Stadtmagazin Zitty) wollen die bisher zuvorkommenden Hauseigentümer nämlich Miete für die im Erdgeschoß gelegene Wohnungsgalerie sehen.

Flucht vor Bolle nach Pankow

Seine Arbeit in Wohnungen und seine dort ausgestellten Arbeiten, die aus verfremdeten Kitsch-Objekten entstehen, sieht der einst in der Hausbesetzerszene aktive Karel Duba als letzten Ausweg aus dem Avantgarde-Dilemma: „Ich befinde mich in einem ständigen Rückzugsgefecht. Es gibt keine Stilbildung mehr, aber die Avantgarde ist noch immer unterwegs. Jetzt muß sie zurück aus dem Feindesland und dabei die Spuren verwischen. So würde ich auch meine Arbeit verstehen – die Grenzen zwischen Kitsch, Kunst und Dekoration verschwimmen.“

Daß sich dennoch sogar an eine Avantgarde auf dem Rückzug welche dranhängen und sich im Café schräg gegenüber am Wochenende schon die Hipster treffen, stört ihn nicht: „Was eine Gegend spannend macht, ist ihre Vielfältigkeit. Wenn Leute mit Geld und Anzug hier im Kiez wohnen, passieren auch so schöne Sachen wie der gute Käseladen.“

Jovanka von den Quarks sieht hingegen ihren mit tausend preiswerten Wohnzimmern gesegneten Prenzlauer Berg in Gefahr: „Als ich hier ankam, war die Kollwitzstraße wunderbar. Ein Jahr später kamen die ersten Busse, und jetzt wird alles plattsaniert. In zwei Jahren ziehen wir alle nach Pankow und bauen ein Schloß.“

Aber nicht nur ihre Idylle, sondern auch die Wohnzimmerszene ist in Bewegung gekommen: Die Quarks rotieren bereits auf Viva und MTV, auf ihren Konzerten trifft man inzwischen Klatschreporter, und der Dresscode auf den entsprechenden Veranstaltungen nähert sich dem Weststandard an: Wer Johns Mohairpullunder aus Las Vegas mit eingesticktem Full House und die dazugehörige Windjacke einer japanischen Christensekte überbieten möchte, sollte sich schon einiges einfallen lassen – oder das nächste Konzert einfach im eigenen Wohnzimmer veranstalten.

Quarks: „Zuhause“ (Monika/Indigo)

Diverse: „Musik fürs Wohnzimmer“ (Monika/Indigo)

Quarks auf Tour: 19.5. Kiel, 20.5. Kassel, 21.5. Halle, 22.5. Berlin, 23.5. Augsburg, 24.5. Wien, 26.5. Zürich, 27.5. Karlsruhe, 28.5. Nürnberg, 29.5. Münster, 30.5. Winterthur, 1.6. Konstanz