Die Grünen

Wer sind wir, und wenn ja, wofür stehen wir? Ist Kretschmanns Politik alternativlos? Auf dem Parteitag wurde vorsichtig diskutiert

Zwei Seelen, ach! in einer Partei

KURS Verrät Kretschmann grüne Ideale? Der Parteitag versucht, die eigene Zerrissenheit zu überspielen. Doch die Grünen wirken gespalten

Puh, nochmal gut gegangen: Simone Peter wurde als Parteichefin bestätigt, aber von links bedrängt. Kretschmann gratuliert Foto: Sebastian Willnow/dpa

AUS HALLE AN DER SAALE Ulrich Schulte

Eigentlich kann eine Partei ja nicht an Schizophrenie erkranken. Aber manchmal liegt der Gedanke nahe, die Grünen seien zwei Parteien, nicht eine. Die einen wollen unbedingt regieren. Sie wissen um die Angst in der Bevölkerung angesichts der Flüchtlingszahlen und sind bereit, daran große Zugeständnisse zu machen. Diese Grünen werden von Winfried Kretschmann angeführt, Baden-Württembergs Ministerpräsident.

Drei Tage lang haben knapp 700 Delegierte auf dem Grünen-Parteitag in Halle an der Saale über die künftige Ausrichtung der Partei, über Arbeitszeitpolitik und Wirtschaftspolitik diskutiert und die Parteispitze neu gewählt. Die Flüchtlings- und Einwanderungspolitik aber war das wichtigste Thema. Ändern die Grünen in der Krise ihren Kurs? Kommen die moralverliebten Träumer zur Vernunft? Oder, das wäre die Sicht der anderen Grünen: laufen sie Gefahr, ihre Ideale zu verraten?

Kretschmann hat seinen Auftritt am Freitagabend, als die Grünen über die Folgen der Pariser Attentate und über die Flüchtlingspolitik streiten. Die Bühne ist hübsch-folkloristisch verziert: Da gibt es eine Friedenstaube auf blauem Grund, die Anti-Atomkraft-Sonne, einen traurigen Eisbären auf einer Scholle, einen Refugees-welcome-Rettungsring. Kretschmann spricht am Rednerpult langsam, seine Stimme schnarrt etwas, wie immer. Baden-Württemberg habe seine Aufnahmeplätze für Flüchtlinge vervierzigfacht. Inzwischen habe man 400.000 Menschen aufgenommen. „Vor wenigen Monaten habe ich Zelte abgelehnt, jetzt muss ich welche aufbauen“, sagt der baden-württembergische Ministerpräsident. Dann kommt er zu seiner wichtigsten Botschaft: „Nicht alle, die zu uns kommen, können auch hier bleiben.“

Nun wird es still im Saal, keine Hand regt sich. Auch an anderen Stellen bleibt der Applaus für den sonst bejubelten Grünen-Star verhalten.

Kretschmann spricht nicht für alle, das ist nicht zu übersehen. Schließlich geht es um den Asylkompromiss mit Merkels Koalition, der für viele in der Messehalle schmerzhaft war. Mehrere von Grünen regierte Länder haben im September das Asylrecht verschärft. Im Gegenzug bekamen sie Milliardenhilfen vom Bund, außerdem wurden Liberalisierungen beschlossen, zum Beispiel Arbeitsmarktzugang für Menschen vom Westbalkan.

Die Bundespartei stellt ein Dutzend Stoppschilder rund um Kretschmann auf

Winfried Kretschmann tut auf dem Parteitag zweierlei. Er rechtfertigt sein Ja. Und er deutet an, dass er die Grünen auch in Zukunft in die Pflicht nehmen will. „Es steht verdammt viel auf dem Spiel.“ Er spricht über die nationalistischen Tendenzen in Europa und Deutschland. Er will im Frühjahr wieder Ministerpräsident werden, die CDU lauert nur auf Fehler.

Kretschmann will das Wohlwollen der Deutschen nicht überstrapazieren. Kurz nach der Rede beginnt der Kampf um die Deutungshoheit. Die Grünen akzeptierten Kretschmanns vernünftigen Pragmatismus, sagen die Realos auf den Fluren. Er habe die „notwendige Führungsverantwortung übernommen“, twittert Reinhart Bütikofer, der Chef der europäischen Grünen. „Ethisch klar, klug, real.“ Aber stimmt das wirklich? Folgen die Grünen Kretschmann? Hier kommt die erwähnte Schizophrenie ins Spiel. Der Leitantrag des Vorstands ist umkämpft. Fast 170 Änderungsanträge liegen vor, mehr als bei jedem anderen Thema.

Die Grüne Jugend attackiert Kretschmann offen. Sie beantragt, seinen Satz, nicht jeder könne hier bleiben, aus dem Beschluss zu streichen. Sie scheitert, was nicht wirklich überrascht. Alle dürfen rein, jederzeit, egal wer? Dies würde bedeuten, die Hoheit des Staates über das eigene Gebiet aufzugeben. Ein Einwanderungsgesetz, das die Grünen auch wollen, wäre in dieser Logik überflüssig. Die Delegierten stellen also nur eine Banalität fest. Andere Kritiker argumentieren differenzierter gegen mehr Zugeständnisse. NRW-Landeschef Sven Lehmann begründet, warum für ihn die Schmerzgrenze beim Asylrecht erreicht ist. Der Abgeordnete Volker Beck wettert gegen die Ausweitung der sicheren Herkunftsstaaten, die der Asylkompromiss ebenfalls enthielt.

Dann stimmen die Delegierten ab, die hinter dicken Antragsstapeln sitzen. Der Vorstand hat viele Änderungen eingearbeitet. Es zeigt sich: Auf dem Papier haben die gesiegt, die sich mehr Offenheit für Flüchtlinge wünschen. Und Kretschmann, der Pragmatiker, hat verloren. 17 Seiten hat der Text, eng bedruckt, darüber Optimismus: „Ja, so schaffen wir das!“

Die Delegierten erklären fast alles, was Kretschmann und die anderen Länderchefs unterschrieben haben, für falsch. Sie lehnen sichere Herkunftsstaaten ab. Sie möchten das Asylbewerberleistungsgesetz abschaffen. Mehr noch: Sie fordern, die Verschärfungen bei nächster Gelegenheit rückgängig zu machen. Außerdem erteilen die Delegierten Zukunftsplänen von Merkels Koalition eine Absage. Keinen Stopp des Familiennachzugs, keinen schlechteren Schutz für Syrer, keine Reanimation des Dublin-Verfahrens: Das alles liest sich, als habe die Partei die Nase voll. Die Bundespartei stellt ein Dutzend Stoppschilder rund um Kretschmann auf. „Klare Kante gegen weitere Verschärfungen beim Asylrecht“, sagt Sven Lehmann am Ende zufrieden.

Dafür wollen die Grünen stehen: ein buntes Potpourri an gemeinsamen Nennern. Doch was davon gilt wirklich? Foto: Rainer Jensen/dpa

Sehnsucht nach Profil

Kretschmann ist der Chefverhandler der neun Grünen-Länder im Bundesrat. Er ist der Mann, der für die Grünen spricht, wenn die Kanzlerin wieder anruft. Wie groß die Sehnsucht nach Profil bei den Grünen ist, zeigt, wie oft vorne ein Mann erwähnt wird, der mit den Grünen nichts zu tun hat. Viele Redner regen sich nochmal über Markus Söder auf, den verhassten CSUler. Sich über den Feind aufzuregen stillt wohl auch andere Bedürfnisse. „Der Beschluss diente vor allem der Selbstvergewisserung“, sagt eine erfahrene Abgeordnete. Da könnte was dran sein. Die Grünen wirken, als redeten sie sich krampfhaft ein, doch ganz okay zu sein.

Doch entscheidend wird etwas anderes sein: Strategisch denkende Grüne denken längst darüber nach, welche Koali­tions­beschlüsse durch den Bundesrat müssen. Dann bekommen Kretschmann und die Länder wieder Macht, mehr Macht, als der Bundespartei lieb ist. Halten sie vor den Stoppschildern? Oder ignorieren sie die Beschlüsse? Kretschmann schuf bisher Fakten, die dem Programm widersprechen. Wenn man Grüne danach fragt, lassen sie sich nicht gerne zitieren. Nichts soll die Wohlfühlstimmung stören. Der Familiennachzug, sagen sie dann, müsse zum Beispiel nicht durch die Länderkammer. Sie sehen dabei erleichtert aus. Ihnen ist klar: Entscheiden wird Winfried Kretschmann, nicht das grüne Parteiprogramm.