Auf der Suche nach Nebensachen: wandernder Gerhard Henschel mit umgedrehtem Friesennerz Fotos: Gerhard Kromschröder
Walter Kempowski war glühender Arno-Schmidt-Verehrer. „Ich bin mir sicher, er war neidisch auf Schmidt“, sagt Gerhard Kromschröder. „Das klingt ja auch in diesem Satz mit, den er Henschel damals geschrieben hat: Wenn Du zu Schmidt gehst, musst Du aber auch zu mir kommen.“
Kempowski, sagt Kromschröder, habe Menschen stets „nahezu genötigt“, in sein Haus zu kommen, er habe geradezu darunter gelitten, literarisch nie so hoch gehandelt worden zu sein wie Schmidt. Und während Schmidt seine Ruhe haben wollte und zurückgezogen in sehr einfachen Verhältnissen lebte, baute sich Kempowski in Nartum ein Haus, das 700 Quadratmeter Wohn- und Arbeitsfläche bot, mit Turmzimmer und Teepavillon, eingebettet in eine parkähnliche Gartenlandschaft: „Er hatte ständig die Hütte voll“, sagt Kromschröder.
„Kromschröder hat einen Landstrich fotografiert, wie ihn Wanderer wohl eher selten fotografieren:überpflegte Vorgärten, Klinkerbauten,1-Euro-Shops. Straßenschilder, Stromverteiler, Bushaltestellenhäuschen“
Das Häuschen von Schmidt und der Palast von Kempowski: Das waren also Start- und Zielpunkte der Landvermessung, für deren fotografischen Part es, so schreibt es Henschel, keinen geeigneteren Kandidaten hätte geben können als den 75-jährigen Gerhard Kromschröder. Umgekehrt hat Henschel für Kromschröders 2011 erschienenen Bildband „Expeditionen ins Emsland“ das Vorwort geschrieben – und auch dafür hätte es keinen geeigneteren Autoren geben können: Henschel nämlich verbrachte seine Adoleszenz im Emsland, nachzulesen in seinem Buch „Jugendroman“. „Ich habe damals davon gehört, wir haben uns kennengelernt – und seither sind wir befreundet“, sagt Kromschröder.
Dabei könnten die beiden unterschiedlicher kaum sein: Der 53-jährige Henschel, der 40 Bücher geschrieben hat, von denen der „Jugendroman“ Teil zwei eines mittlerweile sechsbändigen autobiografischen Romanzyklus’bildet, ist eher leise, zurückhaltend, ironisch. Und Kromschröder, ehemals Reporter, auch undercover in der Nazi- und Rockerszene sowie als Nahostkorrespondent beim Stern, ist laut, forsch, lässt sich ungern etwas sagen: „Ich bin eher so ein Haudegen“, sagt er.
Allerdings teilen beide denselben Humor, der eine halt leiser, der andere lauter. Kromschröder hat lange als Redakteur bei der Satirezeitschrift Pardon gearbeitet, Henschel als Redakteur bei der Titanic. Und: „Henschel und ich entdecken beide Dinge, die andere nicht wahrnehmen oder drüber weggehen – das passt schon“, sagt Kromschröder. In der Tat: Henschels und Kromschröders hervorragend ausgeprägte Ortungssysteme für das vermeintlich absolut Unwesentliche vereinen sich im Wandertagebuch aufs Schönste.
Kromschröder hat einen Landstrich fotografiert, wie ihn Wanderer wohl eher selten fotografieren – und genauso, wie er’s schon auf seiner Emsland-Expedition getan hat: überpflegte Vorgärten, Klinkerbauten, 1-Euro-Shops. Straßenschilder, Stromverteiler, Bushaltestellenhäuschen. Er hat den Truppenübungsplatz Bergen-Hohne fotografiert und die KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen.
Und immer wieder Gegenüberstellungen: Eine Milka-Plastik-Kuh in Bad Fallingbostel links, ein Bauer mit Kühen in Hilligensehl rechts. Der von steinernen Löwen bewachte „Casanova Club“ in Walsrode auf der einen, die „Löwen Play“-Spielhalle in Bockel auf der anderen Seite. Ein verwaister Angelsitz im verregneten Bargfeld, ein blauer Plastik-Karpfen im verregneten Eschede.
August Lewald über die „Lüneburger Haide“, 1840Arno SchmidtAscanius Christoph von Marenholz, 1705Johann Heinrich Campe, 1786Aus dem „Buch für Alle“, 1855Roy BlackHans Christian Andersen, 1831Hermann LönsHermann Löns
„Nach Jagd und Autoraserei / macht man sich hier von Sorgen frei“
Aus der Speisekarte des Landhotels Helms an der L 240 in Altensalzkoth
„Anhängliche Visitatoren sahen ihn wild durchs Moor ziehen, einen Knotenstock in der Hand. Auf der Flucht und doch der Besucher bedürftig“
Walter Kempowski über Arno Schmidt
„Ich habe mir darüber genauso viele Gedanken gemacht wie über jeden meiner Romane“
Walter Kempowski über sein Haus in Nartum
Und seltener, wie zur Besänftigung, hat er auch im klassischen Sinne schöne Aufnahmen eines Landstrichs gemacht, der auch noch andere Gestalten beherbergt hat als Schmidt und Kempowski. Zum Beispiel Hermann „Blut und Boden“ Löns. Aus dessen Kriegsbriefen zitiert Henschel genauso wie aus dessen Buch „Der Wehrwolf“ und kommt zu dem Schluss: „Hermann Löns, der Freund aller Tiere, wollte nackte Frauen ausgepeitscht und aufgeknüpft sehen. An dieser Einsicht führt kein Weg vorbei“ – eine leise Mahnung wahrscheinlich auch an den Schriftsteller Rainer Kaune, der das Buch „Hermann Löns – Naturfreund, Dichter, Umweltschützer“ verfasst hat.
Nicht nur den hat Henschel, der fast schon manische Rechercheur – da ist er Kempowski sehr ähnlich – irgendwo ausgebuddelt, sondern auch andere lokale und zu Recht in Vergessenheit geratene Schriftsteller und Chronisten wie Eduard Kück oder Friedrich Freudenthal. Henschel erzählt Anekdoten, Zitate oder Lokalgeschichtliches wie die Legende von den Heidschnucken oder auch Haidschnukkis oder Aidschnukes oder Oidesnoukes und was diese wiederum mit Franzosenhass zu tun haben.
Ungemein dicht, aber unterhaltsam und unaufgeregt erfüllt er eine scheinbar leblose Region mit Leben, berichtet über die Wahlheimat Schmidts und Kempowskis, über all die deutschen Abgründe, denen sich auch die beiden Schriftsteller ihr Leben lang widmeten, über Gegenwart und Geschichte, über die Nazi-Zeit und den verlogenen Mief danach: So konnte sich der NS-Massenmörder Adolf Eichmann vier Jahre lang unter falschem Namen in Eversen und Altensalzkoth verstecken, bevor er sich 1950 nach Argentinien absetzte. An die Zeit „in diesem wunderschönen Heideland“ habe Eichmann später gern zurückgedacht, schreibt Henschel, und: „Vielleicht hätte er in Altensalzkoth noch viel länger inkognito leben können als in Buenos Aires.“
Henschel erzählt von all den Käffern am Wegesrand, wie Bad Fallingbostel, „eine der Gemeinden, die sich immer noch eine Hindenburgstraße gönnen“, oder Bockel, wo „Lara’s American Diner“ mit „Welcome to Bockel – feel the taste of America“ lockt oder Rotenburg, wo sechs Tage vor dem Besuch der blaubejackten Wandersmänner Henschel und Kromschröder die deutsche Kartoffelkönigin gekrönt wurde. „Immer kommen wir zu spät“, zitiert Henschel seinen Mitwanderer.
Das macht er ohnehin gern, Kromschröder ist ja schließlich Teil des Abenteuers. Umgekehrt taucht Henschel nur hin und wieder auf einem der Fotos im Buch auf, was allerdings nicht heißt, dass Kromschröder über Henschel nichts erzählen könnte. So räumt er gegenüber der taz mit der Mär von der Autobahnbrücke bei Bockel auf, die laut Henschel nur etwas für „schwindelfreie Menschen“ sei und deswegen mit dem Taxi hätte überquert werden müssen: „Henschel hat unglaubliche Höhenangst“, stellt Kromschröder klar. „Eine andere Brücke hat er nur deswegen überquert, weil ich auf beiden Seiten aufgepasst habe, dass kein Auto kommt. Er ist dann in der Mitte drüber gerannt, wirklich: gerannt!“
Umgekehrt hat Henschel geschlichtet, wenn Kromschröder mal wieder Ärger bekam, weil er schamlos alles fotografierte, was ihm vor die Linse kam: „Ich hab dann ja sofort die Fäuste oben und freue mich geradezu, wenn ich mich streiten kann“, sagt Kromschröder. „Das macht zwar Spaß, ist aber oft kontraproduktiv.“
Neben Einheimischen, die ihn misstrauisch beäugten („Heutzutage weiß man ja nie!“), war es vor allem der Wachschutz des Truppenübungsplatzes Bergen-Hohne, wo 1984, schreibt Henschel, „der Bundespräsident und ehemalige SA-Mann Karl Carstens (1940–1945 NSDAP, ab 1955 CDU) von den Streitkräften mit einer Ehrenparade verabschiedet“ wurde, Ärger machte: Zwei bewaffnete Angestellte eines Unternehmens namens „Sicherheit Nord“ forderten Kromschröder auf, sämtliche dort gemachten Fotos zu löschen: „Und während ich schon wieder auf Konfrontation gehen wollte, redete Henschel ruhig und besänftigend mit ihnen“, sagt Kromschröder. So konnte er unauffällig doch noch einen großen Teil seiner Fotos retten. Zum Glück!
Gerhard Henschel/Gerhard Kromschröder: „Landvermessung. Durch die Lüneburger Heide von Arno Schmidt zu Walter Kempowski“. Edition Temmen, Bremen, 224 Seiten, 24,80 Euro