Der unauffällige Herr Jürgens von nebenan

Fall Einst Nachwuchspolitiker, nun Angeklagter wegen Betrugs: Peer Jürgens vor Gericht

Peer Jürgens Foto: dpa

BERLIN taz | Zwischendurch sieht Peer Jürgens aus, als würde er gleich anfangen zu weinen. Die ehemalige Hoffnung der Brandenburger Linkspartei sitzt mit hängenden Schultern auf der Anklagebank. Seine hellblauen Augen starren auf die Tischplatte. Die Schläfen des 36-Jährigen sind ergraut. Eigentlich könnte sich Jürgens schon an seine Rolle als Angeklagter gewöhnt haben. Seit Oktober sitzt er in Potsdam vor Gericht. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm schweren gewerbsmäßigen Betrug und Wahlfälschung vor.

Jürgens war von 2004 bis 2014 Abgeordneter der Linken im Brandenburger Landtag; jetzt ist er Referent der Linksfraktion. Wird er schuldig gesprochen, drohen ihm bis zu zwei Jahre Haft. Selbst bei einem Freispruch „sind seine Persönlichkeit und sein Ruf als Politiker beschädigt“, meint Verteidiger Norman Lenz gegenüber der taz.

Es geht um Mietzuschüsse und Fahrtkosten, die Jürgens vom Landtag erhielt. Über zehn Jahre lang soll er einen falschen Wohnsitz angegeben und so 87.000 Euro zu Unrecht kassiert haben.

Nach seiner Wahl 2004 meldete Jürgens sein Elternhaus in Erkner als Hauptwohnsitz an, ab 2011 eine Wohnung in Beeskow. Beide Orte liegen weit weg von Potsdam im Landkreis Oder-Spree. Er erhielt als Pendler insgesamt 69.700 Euro Fahrtkosten. Außerdem wurde er 2009 als Direktkandidat des Wahlkreises Oder-Spree in den Landtag gewählt. Wenn Jürgens nicht im Wahlkreis gewohnt hat, war das Wahlfälschung. In Wahrheit soll er erst in Berlin, dann in Potsdam gelebt haben.

Dort kaufte er 2009 mit seiner Frau eine Eigentumswohnung. Jürgens hat inzwischen zugegeben, dass er dort jede zweite Woche wohnte und zu Unrecht einen Mietkostenzuschuss erhielt. Die 7.400 Euro hat er dem Landtag bereits zurückgezahlt.

Der Vorwurf erschlichener Fahrtkosten ließ sich bislang nicht klären. Denn dafür muss der „Lebensmittelpunkt“ festgestellt werden. Hausdurchsuchungen deuteten 2014 auf ein Leben in Potsdam hin; ob wochenweise oder permanent, konnten die Ermittler nicht klären. Das Gericht hat die Durchsuchungen für unrechtmäßig erklärt; trotzdem könnten Erkenntnisse ins Urteil einfließen.

„Die Staatsanwaltschaft will nur noch ihr Gesicht wahren, deshalb versucht sie händeringend Aussagen zu bekommen, die ihre wackelige Anklage stützen“, sagt Jürgens’ Verteidiger Lenz. „Das ist jetzt nur noch ein Schauprozess“, empört er sich.

Am Mittwoch, dem nunmehr neunten Verhandlungstag, lädt Richterin Constanze Rammoser-Bode Jürgens’ Ex-Mitbewohner, einen ehemaligen Nachbarn und eine Nachmieterin. Falko P., der 2006 einige Monate mit Jürgens in einer WG in Berlin wohnte, kann sich kaum an diesen erinnern. „Wir haben immer nur kurz geredet“, erzählt P., „Peer war fast nie da.“ Laut Oberstaatsanwalt Rüdiger Falch beweist die Aussage aber, dass der „Lebensmittelpunkt eindeutig dort“ war, also in Berlin.

Jens B. erinnert sich, Jürgens über ihm „hin und wieder mal trampeln gehört“ zu haben

Im Jahr 2011 meldete Jürgens ein Ein-Zimmer-Apartment in Beeskow als Hauptwohnsitz. Eine Etage tiefer wohnte Jens B. Der erinnert sich, den Nachbarn über ihm „hin und wieder mal trampeln gehört“ zu haben. Ob dies schon vor 2014 der Fall war, kann B. nicht beantworten. Die 81-jährige Suzanne H. soll von Jürgens eine Wohnung übernommen haben, hat ihn aber nach eigenen Angaben nie gesehen.

Als Indiz für Jürgens’ Lebensmittelpunkt gilt der Schwimmverein: Er war zeitgleich in einem Berliner und einem Potsdamer Club. Für Letzteren trat er bei Triathlons an. Vor Gericht erklärt Jürgens: Die Teilnahme sei nur mit Potsdamer Mitgliedsausweis möglich gewesen. Das heiße nicht, dass er gelogen habe, erklärt Jürgens. „Ich wollte einfach mein Land bei Wettbewerben vertreten“, sagt er. Jana Anzlinger