Neurosennest und Begriffsklau

Cannes Cannes 6 Die Schwierigkeit von Familien an sich und ein schräger Alien-Streifen: Das war das Wochenende in Cannes

Ende gut, alles gut. Im Leben ist das Ende normalerweise der Tod. Da passt der Titel „Happy End“ nur zu gut zu Michael ­Hanekes jüngstem Wettbewerbsbeitrag. Ein Familienporträt und eine Fortsetzung von „Liebe“, für den Haneke in Cannes vor fünf Jahren die Goldene Palme gewann. Damals hatte Jean-Louis Trintignant als Ehemann einer von Alzheimer gezeichneten Frau eine folgenschwere Entscheidung zu treffen. Jetzt tritt er, in derselben Rolle, vornehmlich als Familienpatriarch in Erscheinung, der selbst mit Demenz zu kämpfen hat.

Das Geschehen bestimmen andere Familienangehörige. Da sind die Kinder Anne (Isabelle Huppert), die das Unternehmen des Vaters kommissarisch führt, und Thomas (Mathieu Kassovitz), ein leitender Arzt. Nach einem Selbstmordversuch seiner ehemaligen Frau zieht die gemeinsame Tochter Eve von der Mutter zu Thomas, der sehr wenig väterliche Neigung zeigt.

In der Familie herrscht insgesamt ein emotional gering temperierter Umgang miteinander, Herzlichkeit gehört nicht zum üblichen Gestenrepertoire. Auch mit den Katastrophen, die die Familie nach und nach heimsuchen – der Tod spielt durchaus eine Rolle –, geht man lieber geschäftsmäßig um. Bis zu einem gewissen Punkt.

Die Frage von Nähe und Distanz behandelt Haneke zugleich ganz direkt als eine Frage des Ins-Bild-Setzens: Zu Anfang sieht man – eingerahmt von der schwarzen Leinwand – ein Handyvideo im Hochformat, mit Kurznachrichten, die das Gefilmte kommentieren. Erst später begreift man, dass hier die Tochter ihre Mutter aufgezeichnet und deren Alltagsroutine kommentiert hat. Für die Entfernung von der eigenen Mutter hat Haneke hier ein so schlichtes wie starkes Bild gefunden.

Von der schwierigen Nähe zur eigenen Familie weiß „The Meyerowitz Stories (New and Selected)“ von Noah Baumbach ebenfalls einiges zu berichten. Bei ihm hat man es mit den neurotischen Verstrickungen einer New Yorker jüdischen Familie zu tun. Und mit einem egomanischen Familienoberhaupt, an dem die eigenen Kinder zerbrechen. Dustin Hoffman gibt den ewig mit der eigenen Bedeutung hadernden Harold Meyero­witz, einen Bildhauer und emeritierten Hochschullehrer, der sich mit der Aussicht auf das nahende Ende seines Lebens anfreunden muss.

Seine Kinder hat er einerseits vernachlässigt, andererseits kann er nicht von ihnen lassen: Danny (ein zärtlich gebrochener Adam Sandler) und Jean (gefasst frustriert: Eli­za­beth Marvel) haben mit ihren eigenen Talenten im Leben nicht recht Fuß gefasst, ihr Halbbruder Matthew (ein pointiert wadenbeißerischer Ben Stiller) versucht die Enttäuschung des Vaters über fehlende künstlerische Neigungen mit alphamännlicher Geschäftstüchtigkeit auszugleichen. Zusammen mit der Musik von Randy Newman ergibt das eine melancholische Komik, in der schwere Fragen sehr leicht erscheinen können, aber nicht allzu leicht.

Eine Art Leichtigkeit des Absurden erprobt der Japaner Kiyoshi Kurosawa in „Before We Vanish“ in der Reihe „Un Certain Regard“. Da beginnen sich Menschen auf einmal seltsam zu verhalten, weil Aliens in Menschengestalt den Menschen bestimmte Begriffe wegnehmen („Selbst“, „Feind“, „Eigentum“). Die derart begriffsgestutzten Menschen müssen fortan wohl oder übel, eher übel, ohne diese semantischen Fähigkeiten leben. Dazu bewegen sich die Aliens mit wunderbar maskenhaft-irrer Mimik, ein nicht unwesentlicher Reiz dieser Groteske über die Frage, was Menschsein ausmacht, die mehr amüsiert als erschreckend wirkt – ungeachtet des recht blutigen Beginns.

Tim Caspar Boehme