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: Wo die Männer Schweine sind

„Tag – A High School Splatter Film“ (Japan 2015, Regie: Sion Sono)

Zwei Busse mit Mädchen in waldreicher Landschaft. Ein undefinierbares Etwas, ein Wind, streicht über sie hin; auch die Kamera fliegt, sie fliegt wie etwas, das sich aus eigenem Willen bewegt. Der Wind und die Kamera und ein nicht sichtbares Etwas, das im Wind und der Kamera sitzt: Sie haben Böses im Sinn. Mit einem Streich nämlich werden die beiden Busse, und die Mädchen darin, einfach halbiert. Wie ein Messer durch Butter geht der Wind horizontal durch den Bus, es bleiben sitzende, Blut sprudelnde Stümpfe, die Oberkörper der Mädchen sind auf der Straße verstreut. Nur eine hat Glück, sie hatte gerade einen Stift vom Boden aufheben wollen. Mitsuko, unsere Heldin, vom Blut der halbierten Mitschülerinnen besudelt, sie weiß nicht, wie ihr geschieht. Der Wind kommt zurück, halbiert ein paar Zufallspassanten, nur Mitsuko bleibt weiter verschont.

Sie flieht, wäscht sich am Fluss, kommt zu ihrer Schule zurück – und alle, die halbiert waren, leben. Ihr Sterben ein Traum? So sieht es erst aus. Mitsuko, sonst furchtbar brav, geht Schule schwänzend mit drei Freundinnen in den Wald an den See.

Eine der drei, sie zückt gerne beide Mittelfinger zum „Fuck You“, heißt Sur. Sur wie Surreal, sie ist eine wandelnde These und rät zur Surrealisierung des Alltags. Nichts muss sein, wie es ist, alles ist möglich. Alles, was hier nicht geschieht, ereignet sich im Universum nebenan dennoch. Alles ist möglich, zum Beispiel auch, dass die freundliche Lehrerin mitten im Unterricht das Maschinengewehr zückt und die gesamte Klasse aus heiterem Himmel niederzumähen beginnt.

Alles ist möglich, denn „Tag“ ist ein Film von Sion Sono. (Seinen deutschen Untertitel „A High School Splatter Film“ verdient er sich, wie man sieht, redlich.) Und Sion Sono kennt keine Grenzen, haut einen Film nach dem anderen raus. „Tag“ ist einer von sechs, die er 2015 gedreht hat, aber bei Sion Sono weiß man nie, was einen erwartet: ein Kampfkunst-Ghetto-Japan-Rap-Musical wie „Tokyo Tribe“, ein Vier-Stunden-Sex-Katholizismus-Sekten-Irrsinn wie „Love Exposure“ oder eine familienfreundliche Fantasy-Geschichte wie „Love & Peace“. Sion Sono, der im Underground anfing, auch Romane schreibt und Gedichte, gilt heute als Japans unberechenbarster Filmemacher. Eins zeichnet ihn allemal aus: Er kennt kein Halten.

„Tag“ ist dann auch wieder ganz anders als der im selben Jahr entstandene meditative Weltraumfilm „Whispering Star“ – nämlich ein schnelles, kurzes, wildes, äußerst brutales Ding, das nach den Massakern des Beginns noch weitere unvorhersehbare Wendungen nimmt. So wird Mitsuko von einem Moment auf den nächsten eine andere sein: Keiko, eine Mittzwanzigerin kurz vor der Hochzeit mit einem Mann, der leider einen Wildschweinkopf hat. Auch das endet blutig.

Was hier nicht geschieht, passiert im Universum nebenan

Die längste Zeit gibt es in „Tag“ zwar viele kopflose Leichen, jedoch keine Männer (sieht man vom Wildschweinkopf-Möchtegern-Ehemann ab). Das wird sich schlagartig ändern, wenn Mitsuko/Keiko spät im Film ganz ausdrücklich in die Welt der Männer gerät. Dort wird sich dann auch mancher Irrsinn, der bis dahin geschah, in gewisser Weise erklären.

Einerseits. Meistens sammelt Sion Sono die Bilder und Zeichen, die er wild und wüst streut, im Lauf seiner Filme auch wieder zusammen. Das ist eine Stärke, denn sonst bliebe alles allzu beliebig. Andererseits stellt sich oft, auch hier, doch die Frage, was das Ganze über die Faszination der abrupten narrativen Wendungen und der Oberflächenreize hinaus eigentlich soll. Aber womöglich ist diese Frage auch dumm. Denn es gibt, eigentlich immer, diese Faszination. Und das ist mehr, als die meisten anderen Filme auf der Welt von sich sagen dürfen.

Ekkehard Knörer

Die DVD ist ab rund 10 Euro im Handel erhältlich