Kolumne Die eine Frage: Das Ende von 1968

Die Grünen wollen mit Baerbock und Habeck zentrale politische Kraft werden. Dafür braucht es den radikalen Bruch mit ihrer 68er-Kultur. Geht das?

Annalena Baerbock und Robert Habeck schauen nach links

Wo geht's zum Zentrum der Gesellschaft? Die neuen Bundesvorsitzenden Annalena Baerbock und Robert Habeck Foto: dpa

Die Grünen wollen jetzt auch außerhalb Baden-Württembergs zentrale politische Kraft der Mehrheitsgesellschaft sein. Und damit sind wir schon beim Problem: Wenn du das werden oder bleiben willst, dann musst du der Gesellschaft hinterher.

Merkel hat das ein Jahrzehnt gut beherrscht. Das ist der Grund für ihre lange Amtszeit. Weil sie die CDU durch kulturelle Liberalisierung zum üblichen Sozialdemokratismus hinzu als führende Partei konserviert hat. Das entsprach dem Zeitgeist. Aber zumindest derzeit geht der Move in die andere Richtung, und das ist der Grund, warum es mit ihr seit Herbst 2015 abwärts ging. Warum in Österreich jetzt Sebastian Kurz Kanzler ist, warum Söder, Dobrindt und Spahn reden, wie sie reden.

Die Frage ist, wie man der Gesellschaft hinterhergeht, aber die Lösung ist definitiv nicht, larmoyant zu beklagen, dass sie nach rechts drifte. Anton Hofreiter hat letztes Wochenende beim Parteitag in Hannover die Gefühlsbedürfnisse mancher Delegierter wunderbar abgedeckt. „Wir stehen ganz klar auf Seiten der Humanität“, brüllte der Fraktionsvorsitzende, „und wenn wir die Einzigen sind, die auf Seiten der Humanität stehen, dann stehen wir trotzdem auf Seiten der Humanität.“ Ja, super.

In der Konsequenz bedeutet das, nicht politikfähig zu sein, weil man einem höheren Wert dient, der nicht mit der Realität verhandelbar ist. Dann kann man an der Seite der Humanität sauber zusehen, wie Menschen im Mittelmeer oder im Kosovo verrecken.

Moralische Anmaßung

Das ist die moralische Anmaßung von 1968, die von Teilen der Grünen und ihrer Milieus bis heute als Gral gehütet wird. Sie war wichtig, weil sie das liberale Moment der Selbstermächtigung dynamisierte. Aber jetzt ist 2018 und jetzt geht hier ganz schön viel zu Ende. Die Industriegesellschaft, die Spätmoderne, die Volksparteien, die schöne Zeit ohne neonationale, illiberale Dynamik. So gesehen hatten die Grünen den richtigen Parteitagsslogan: „Das ist erst der Anfang“. Aber sie müssen ihn auch verstehen.

Es bedeutet: Denken wir neu. Alles auf Anfang. Reset nach 40 Jahren. Man darf nicht mehr alles schon immer gewusst haben, sondern muss die Fragen der anderen zulassen. Wir erleben eine historische Zäsur, und die haben in Hannover die neuen Parteivorsitzenden Annalena Baerbock und Robert Habeck in Person und Rede abgebildet.

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Was ist „linksliberale“ europäische und sozialökologische Politik, die 2018 ein ökonomisches und kulturelles Band so breit spannen kann, dass es eine mehrheitsfähige Antwort auf Lindner, Spahn, Dobrindt, AfD und das Potemkinsche Dorf namens SPD ist, ohne das als Gesellschaftsbruch zu zelebrieren? „Wir müssen die integrative Gesellschaft vom Zentrum aus denken und niemanden gehen lassen“, sagte Habeck im Congress Centrum. Sein Ziel sei eine „Gemeinsamkeit der Verschiedenen“. Das aber bedeutet, an der Seite der Geflüchteten zu stehen und an der Seite derer, die Sicherheitsbedürfnisse haben und in der 68er-Kultur alle miteinander amoralische Nazi-Arschlöcher sind.

Dieser Habeck glaubt ja wirklich ernsthaft, dass man das nicht nur in Ländern, sondern künftig zusammen im Bund hinkriegen kann. Der ist ganz euphorisch. Ich dagegen könnte stundenlang Gründe nennen, warum das mit den Grünen nie was werden kann. Aber das wäre genau das selbstgerechte und auf nichts Gemeinsames hinaus wollende Besserwisser- und Besserseintum, das over ist. Deshalb ist Robert Habecks ernsthaftes Abenteuer des Sprungs in die Zentrale der Gesellschaft der moralisch überlegene Ansatz und das kleinere Risiko. Wenn wir jetzt nicht springen, werden wir alles verlieren.

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Chefreporter der taz, Chefredakteur taz FUTURZWEI, Kolumnist und Autor des Neo-Öko-Klassikers „Öko. Al Gore, der neue Kühlschrank und ich“ (Dumont). Bruder von Politologe und „Ökosex“-Kolumnist Martin Unfried

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