In einem Meer von Sprachbildern

Die Newcomerin Anja Kampmann hat es mit ihrem ersten Roman auf die Shortlist des Leipziger Buchpreises geschafft. In „Wie hoch die Wasser steigen“ schickt sie ihren unbehausten Protagonisten auf einen Trip kreuz und quer durch Europa

Auf einer Bohrinsel weit draußen auf dem Meer beginnt der Roman Foto: reuters

Von Katharina Granzin

Das Wasser. Die Vögel. Das weite flache Land. Die Grube. Die Bohrinsel. Ja, und dann natürlich das Auto und der schwarze Anzug. Das sind so die Bilder, Dinge, Begriffe, mit denen Anja Kampmann ihren Protagonisten umgibt. Oder auch umhegt. Aber es nützt nichts. Denn Waclaw, so heißt er, ist und bleibt allein und irgendwie verloren in dieser Welt: ein Unbehauster in einem Meer von Bildern.

Auf einer Bohrinsel weit draußen in der Nordsee begegnet er uns zu Beginn dieses Romans. Ein heftiger Sturm tost um die Plattform, und Waclaws Zimmergenosse und bester Freund Mátyás ist verschwunden und wird nicht wieder auftauchen. Nach einer kleinen Weile sucht niemand mehr nach ihm, es hat ja doch keinen Zweck. Damit ist auch Waclaws Zeit auf der Bohrinsel vorbei. Er verlässt sie, um nicht wiederzukehren.

Und es ist fast so, als sei damit auch seine übrige, in die Zukunft gerichtete Lebenszeit vorbei, denn die unablässige Reisetätigkeit, die der Protagonist den gesamten Roman über entfaltet, führt ihn sozusagen rückwärts – zurück in die gemeinsam mit Mátyás verbrachte Zeit in einem kleinen Zimmer in Marokko, dann in das unbekannte Leben des Freundes (war er mehr noch: ein Geliebter? Wir werden es nicht letztgültig erfahren) in Ungarn, und schließlich noch viel, viel weiter zurück in Waclaws eigenes Leben vor Mátyás und vor den Bohrinseln. Dazu muss er nach Italien reisen, nach Malta, nach Polen und ins Ruhrgebiet. Und dort lässt er schließlich eine Brieftaube frei, auf dass sie allein ihren Weg über die Alpen nach Hause finden möge. (Wunsch für die nächste Buchsaison: bitte mal ein halbes Jahr Lektüre ohne Vogelmetaphern!) Und irgendwann beginnt man sich fast zu wünschen, die Menschheit hätte die Metapher nie erfunden.

Anja Kampmann: „Wie hoch die Wasser steigen“. Hanser Verlag, München 2018. 350 Seiten, 23 Euro

Dabei beherrscht Anja Kampmann, die bereits einen Band mit Lyrik veröffentlicht hat, das Geschäft mit der Uneigentlichkeit eigentlich ziemlich gut. Eine stark ins Parataktische tendierende, zwischendurch immer wieder verb- und dadurch syntaxfreie Schreibweise etabliert in Kampmanns erstem Roman einen Prosastil, der sich permanent gegen jedes allzu gradlinige narrative Funktionieren zu stemmen scheint. Es ist, als solle jeder Satz unbedingt für sich selbst stehen können, ein eigenes Bild etablieren, eine versteckte Bedeutung anreißen.

Dieser Absolutheitsanspruch im Detail hat auf der einen Seite etwas Eigensinniges, Angstfreies; das Kunstwollen springt einen geradezu an. Auf der anderen führt es dazu, dass die Bilder sich zu einer Flut von virtueller, vielleicht auch nur behaupteter Bedeutung auftürmen.

Aber wozu? Wozu diese dezidiert emblematischen Bilder von Landschaften, von Städten, Interieurs, von spielenden Kindern, verwesenden Tieren, Staub?

Die schweigsame Hauptfigur und der hohe Ton des Textes – warum erzählt sie so von dem Mann?

Ja, natürlich, Waclaw verliert sich zusehends in dieser halbglobalisierten Bilderwelt aus zu vielen Eindrücken. Vielleicht ist es das, was hier gezeigt werden soll; andererseits verliert er dadurch auch uns, denn wir wollen von erzählender Prosa doch eigentlich noch mehr. Oder etwas anderes: Wir wollen, dass sie von etwas handelt. Dass es um etwas geht.

Man wird hier aber die ganze Zeit das Gefühl nicht los, das, von dem erzählt wird, sei in Wirklichkeit nur ein stellvertreterhaftes Zeichen für etwas anderes. Wenn dieses Andere bis zum Schluss unfassbar bleibt, dann stellt sich doch die Frage, ob hinter der behaupteten Uneigentlichkeit denn wirklich noch etwas ist, oder ob man die ganze Zeit nur auf eine literarische Fototapete gestarrt hat, eine Art Hologramm, das nur so tut, als hätte es eine dritte Dimension.

Waclaw als Figur bleibt ebenfalls eine Art Chiffre. Rein optisch kann man sich die Art Mann, die er sein muss, anhand von hier und da gelieferten Details sehr gut in etwa (oder eigentlich: ganz genau so!) vorstellen wie die Hauptfigur in Valeska Grisebachs Film „Western“: schweigsam, lang und dünn, mit schweren Lederstiefeln an den Füßen, ein ehrlicher Arbeiter vor dem Herrn, kein Denker und kein Schwätzer.

Anja Kampmann Foto: Juliane Heinrich

Dieser Mann aber und die ambitionierte Bilderschleuder von Anja Kampmanns Prosa, der hohe Ton, der beständig darin sirrt, passen rein gar nicht zusammen. Warum erzählt sie gerade in dieser Weise von gerade einem solchen Mann? Wieso evoziert sie aufwendige Bilder von schwerer Arbeit auf Bohrinseln und in Bergwerken, ohne von der Arbeit an sich zu erzählen? Was hat Waclaw für ein Leben geführt? Warum wurde dieses Buch geschrieben? Gibt es eine Welt hinter all den Zeichen?

Abgesehen von solcher Irritation aber: Kampmanns Bilder haben visuelle Kraft. Man bekommt beim Lesen viel zu sehen. Und natürlich hofft man auch, dass die Brieftaube nach Hause findet.