Detailverliebter Frontalangriff

Vor mehr als drei Jahren überwarf sich Beate Zschäpe mit ihren Anwälten. Nun halten sie ihre Plädoyers. Rechtsanwalt Heer erhebt schwere Vorwürfe gegen Anklage und Gericht

Wolfgang Heer (Mitte) beim Plädoyer Foto: Matthias Schrader/ap/dpa

Von Malene Gürgen, München

Es ist eine Art ruhige Vorfreude, die Wolfgang Heer an diesem Donnerstagmorgen ausstrahlt. Sorgfältig cremt er sich die Hände ein, rückt die schneeweiße Krawatte zurecht und streift die Robe über. Gleich wird er in Saal 101 des Oberlandesgericht München zum dritten Tag seines Abschlussplädoyers anheben, es ist der 430. Prozesstag in dem seit Mai 2013 andauernden Mammutverfahren.

Heer stützt sich während seiner Rede am Pult ab, er spricht ruhig, wirkt oft auch umständlich, besonders detailreiche Ausführungen werden auf der Besuchertribüne mit Seufzen quittiert. Trotzdem: Es ist der große Auftritt des 45-jährigen Anwalts, der gemeinsam mit Anja Sturm und Wolfgang Stahl das ursprüngliche Verteidigertrio der angeklagten Beate Zschäpe bildete. Nachdem sich Zschäpe im Sommer 2015 endgültig mit ihren Anwälten überworfen hatte und fortan nur noch ihre neuen Verteidigern Mathias Grasel und Hermann Borchert ins Vertrauen zog, hatten Heer, Stahl und Sturm mehrmals um ihre Entbindung gebeten – ohne Erfolg. Nun, in diesen wohl tatsächlich allerletzten Tagen des mehr als fünfjährigen Prozesses, haben die Alt-Anwälte noch einmal die Chance, ihre Sicht der Dinge in München vorzutragen.

Heer ist offenbar äußerst entschlossen, diese Chance zu nutzen: Die Forderung nach der sofortigen Freilassung Zschäpes am Dienstag zu Beginn seines Plädoyers war ein Paukenschlag, unterbot sie doch noch das Plädoyer ihrer neuen Anwälte Grasel und Borchert, die maximal zehn Jahre Haft für Zschäpe gefordert hatten. Detailreich und akribisch nimmt er seitdem den Prozess auseinander. Dabei geht es ihm vor allem darum, Fehler in den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft und der Prozessführung des Vorsitzend Richters Manfred Götzl nachzuweisen. Die Vorwürfe, die er erhebt, wiegen schwer: Zschä­pe, so seine These, sei das Recht auf einen fairen Prozess verweigert worden.

Inhaltlich konzentriert sich Heer in seinem Plädoyer auf den 4. November 2011, an dem Zschä­pe nach dem Selbstmord von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt das Versteck des Trios in der Zwickauer Frühlingsstraße in Brand gesetzt hatte. Nach Ansicht Heers die einzige Tat, aufgrund derer Bea­te Zschäpe zu verurteilen sei, und zwar auch nur wegen einfacher Brandstiftung. Die übrigen Vorwürfe der Bundesanwaltschaft, darunter die Mittäterschaft in zehn Mordfällen und die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, hatte er gleich zu Beginn seines Plädoyers zurückgewiesen.

Heer versucht nachzuweisen, dass Zschäpe bei der Brandstiftung ohne Tötungsvorsatz gehandelt habe und deswegen nicht wegen versuchten Mordes verurteilt werden könne. Selbst den Antrag auf Hinzuziehung eines weiteren Brandsachverständigen lässt er sich nicht nehmen; ausführlich beschäftigt er sich außerdem damit, ab wann sich grundsätzlich von einer vorsätzlichen Tat sprechen lässt.

Scharf kritisiert er die aus seiner Sicht viel zu späte Vernehmung der Rentnerin Charlotte E., Nachbarin der rechten Terrorzelle in Zwickau. Kurz bevor Zschäpe die Wohnung in Brand setzte, soll sie nach Ansicht der Verteidigung bei der damals 89-jährigen E. geklingelt haben. „Das Klingeln spricht evident gegen den Tötungsvorsatz“, begründet Heer, warum dieser Umstand aus seiner Sicht so entscheidend sei – und die Tatsache, dass das Gericht E. erst im Dezember 2013 zu vernehmen versuchte, so fatal. Denn damals war die Rentnerin bereits so stark an Demenz erkrankt, dass sie keinerlei Aussage mehr zu den Ereignissen machen konnte.

Der Kölner Anwalt spielt in seinem Plädoyer seinen Vorteil gegenüber den neuen Verteidigern aus: Die Brandstiftung war zu Beginn des Prozesses Gegenstand der Verhandlungen, sie so detailreich zu rekonstruieren wäre für die damals gar nicht anwesenden heutigen Anwälte nicht möglich.

Zschäpe, so Heers These, sei das Recht auf einen fairen Prozess verweigert worden

Gleichzeitig ist es eine bizarre Situation, in der er spricht: Zschä­pe redet seit fast drei Jahren kein Wort mehr mit ihren ehemaligen Anwälten, deren weitere Verteidigung läuft gegen ihren Willen. Dennoch hält Heer nun ein Plädoyer, das die Aufgabe, Zschäpe zu verteidigen, um einiges besser erfüllt als das ihrer neuen Anwälte, die bereits Ende April plädiert hatten. Zschäpe selbst scheint die meiste Zeit zuzuhören, besonders am Ende des Vortrags geht ihr Blick auch zu ihrem ehemaligen Verteidiger selbst – ob sie nun größtenteils unbeteiligt oder konzentriert aussieht, ist Interpretationssache.

Beim kleinsten Geräusch im Saal bittet Heer um Ruhe; als die Staatsanwälte kurz miteinander tuscheln, wirkt er fast beleidigt. Die Verteidigungsposition sei durch die Art der Prozessführung „irreparabel beschädigt worden“, sagt er.

Am Nachmittag beendet Heer schließlich seinen Vortrag. In der nächsten Woche soll es mit den Plädoyers von Anja Sturm und Wolfgang Stahl weiter­gehen, das Ende des Prozesses wird frühestes für Ende des Monats erwartet. Für den Tag der Urteilsverkündigung sind unter dem Titel „Kein Schlussstrich“ in mehreren Städten Aktionen angekündigt.