Der Fall Özil ist ein Fall Grindel

Einer der wichtigsten DFB-Nationalspieler tritt zurück: Mesut Özil will den deutschen Rassismus nicht mehr ertragen

Er hat fertig: Mesut Özil nach seinem letzten Mal. Das Spiel gegen Südkorea (0:2) besiegelte das deutsche Vorrunden-Aus Foto: Matthias Koch/imago

VonJan Feddersen, Berlin

Nie zuvor ist es passiert, dass ein deutscher Fußball-Nationalspieler in dieser Weise Klartext redet. Mesut Özil, der kürzlich bei der WM in Russland sein 92. Länderspiel für den DFB absolvierte, erklärte gestern seinen Rücktritt aus dem Kader von Joachim Löw. In der per Twitter auf Englisch verbreiteten Stellungnahme schreibt er: „Ich fühle mich ungewollt und denke, dass das, was ich seit meinem Länderspieldebüt 2009 erreicht habe, vergessen ist.“

Aber er hat noch viel mehr zu sagen. Der Mann aus dem Ruhrpott schließt sein beißend-klares Statement mit Sätzen, die faktisch den echten, nicht nur gutherzig-gefühlten Stand der Debatte ums Zusammenleben mit migrantisch geprägten Bürger*innen zusammenfassen: „Mit schwerem Herzen und nach langer Überlegung werde ich wegen der jüngsten Ereignisse nicht mehr für Deutschland auf internationaler Ebene spielen, solange ich dieses Gefühl von Rassismus und Respektlosigkeit verspüre.“ Und weiter: „Ich habe das deutsche Trikot mit solchem Stolz und solcher Begeisterung getragen, aber jetzt nicht mehr.“

Özil stand fast neun Jahre im Kader von Joachim Löw, 2009 in Baku feierte der fußballerisch hochbegabt-feingliedrige Mittelfeldspieler sein Debüt als DFB-Spieler in einem Qualifikationsmatch für die nahende WM in Südafrika. Seit der WM in Russland, bei der das deutsche Team mit überwiegend zähen Performances schon nach der Vorrunde nach Hause fahren musste, ist der gebürtige Gelsenkirchener der Sündenbock für die sportliche Havarie der DFB-Auswahl.

Dass Özil, einer der Wichtigsten beim deutschen WM-Sieg in Brasilien 2014, zum einzigen Spieler wurde, an dem sich die giftige Diskussion um den schlechten deutschen DFB-Fußball entzündete, liegt allerdings auch an ihm selbst. Mitte Mai hatte er sich in England, zusammen mit dem ebenfalls aus einer türkischstämmigen Familie erwachsenen Ilkay Gündoğan, mit dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan nicht nur getroffen, sondern diesem auch ein Fußballshirt mit seinem Namenszug darauf geschenkt. Die Geste provozierte starke Kritik.

Anders als sein DFB-Mannschaftskollege Gündoğan aber erklärte sich Özil öffentlich bis Sonntag nicht: Zwar reagierte er auf die Einbestellung zum Gespräch bei DFB-Präsident Reinhard Grindel. Doch der CDU-Politiker, seit 2016 als Vorsitzender amtierend, bot dem Fußballer keinen Raum, die eigene Befindlichkeit mitzuteilen.

Angela Merkel, Bundeskanzlerin

„Mesut Özil ist ein toller Fußballspieler, der viel für die Fußball-Nationalmannschaft geleistet hat. Er hat jetzt eine Entscheidung getroffen, die zu respektieren ist.“

DFB-Präsidium

„Dass der DFB mit Rassismus in Verbindung gebracht wird, weisen wir in aller Deutlichkeit zurück.“

Heiko Maas, Außenminister

„Ich glaube nicht, dass der Fall eines in England lebenden und arbeitenden Multimillionärs Auskunft gibt über die Integrationsfähigkeit in Deutschland.“

Omid Nouripour, Grünen-MdB via Twitter

„Grindel hätte gehen sollen, nicht Özil.“

Uli Hoeneß, FCB-Präsident

„Ich bin froh, dass der Spuk vorbei ist. Der hat seit Jahren einen Dreck gespielt. Den letzten Zweikampf hat er vor der WM 2014 gewonnen“

Bernd Riexinger, Linken-Chef via Twitter

„Steuerminderleister #Hoeneß tritt gegen #Özil nach. Dabei sollte er wie viele andere der korrupten deutschen Fußballriege eher ganz ruhig sein, wenn es um Leistung für die Allgemeinheit geht.“

Frank Überall, Vorsitzender des Deutschen Journalisten-Verbands

„Anders als Özil behauptet, ist ein gemeinsames Foto mit dem für die Abschaffung der Presse- und Meinungsfreiheit in der Türkei gefürchteten Autokraten politisch. Und natürlich musste das kritische Fragen aufwerfen.“

Aiman Mazyek, Zentralrat der Muslime

„Was da jetzt an Respektlosigkeit, Vorurteilen und auch an Rassismus über ihn sich ergoss, das ist beispiellos und furchterregend.“

Mehmet Kasapoğlu, türkischer Sportminister via Twitter

„Wir unterstützen die ehrenhafte Haltung unseres Bruders Mesut Özil von Herzen.“

Jerôme Boateng, Fußballweltmeister 2014

„Es war mir eine Freude, Abi.“

Vielmehr, so Özil in seinem aktuellen Statement, stelle es sich für ihn so dar: „Die Sache, die mich wahrscheinlich am meisten in den vergangenen Monaten frustriert hat, war die schlechte Behandlung durch den DFB, und vor allem durch den DFB-Präsidenten Reinhard Grindel.“ Als er diesem „mein Erbe, meine Vorfahren und die daraus entstandenen Gründe für das Foto zu erklären versuchte, war er viel mehr daran interessiert, über seine eigenen politischen Ansichten zu sprechen und meine Meinung herabzusetzen.“

Grindel also qualmte den Mann, der ihm den sonnigen Posten an der Spitze des mächtigsten deutschen Sportverbands überhaupt erst mit verschafft hat, zu – und wollte nichts davon hören, dass die psychologischen Verhältnisse im wahren Leben eines Mannes wie Özil komplizierter sind, als es eine deutsche Person von hartleibigem Charakter sich auszumalen wünscht.

Immer klarer schält sich heraus, dass der Fall Özil tatsächlich ein Fall Reinhard Grindel ist. Ende voriger Woche kritisierte bereits Karl-Heinz Rummenigge, Vorstandsvorsitzender der Bayern-München AG, das Management der DFB-Spitze mit dem sogenannten Fall Özil: „Amateure haben Geschehen im DFB übernommen“ – und das zielte auf den DFB-Vorstand mit Reinhard Grindel an der Spitze.

Der notorisch am rechtskonservativen Rand der Union Segelnde, eher Horst Seehofer als Angela Merkel politisch Zugeneigte, hat aus seiner Ablehnung eines multikulturellen Deutschlands nie ein Geheimnis macht. Die Integration von neudeutschen Bürger*innen ist für ihn „Ausländerpolitik“, Multikulti überhaupt ein unzumutbarer „Kuddelmuddel“. „Gegen die Wand (gefahren)“, Grindels Mahnung vor 14 Jahren im Bundestag mal ernst genommen, ist jetzt die Integrationsarbeit des DFB: In den Nachwuchsligen seines Verbands sind alle Spieler aktiv, die dereinst Deutschland auch international repräsentieren können. Besser: könnten.

Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit wird Özils bittere Abrechnung mit dem undankbaren DFB zu einem Verzicht türkischstämmiger deutscher Spieler auf die Dienste für den DFB führen. Sie könnten schließlich auch für die türkische Nationalmannschaft spielen. Man darf insofern formulieren: Reinhard Grindel hat aus intellektueller Unterkomplexität oder politischer Dummheit Deutschlands Fußballzukunft zu einer offenen Frage gemacht.

Dass in der deutschtürkischen Community spätestens seit 1990, mit dem Fall der Mauer, kollektive Ängste vor Rassismus und Abwertung stärker denn je geworden sind, dass es eine Wahrnehmung als neudeutsche Bürger*innen gibt, die Herzenskälte und Desinteresse an ihnen signalisieren, hat der DFB nie merken wollen: Die Brandanschläge auf ein türkisches Wohnhaus in Solingen, die fehlende Trauer um deren Opfer, die Serie der NSU-Morde an Menschen meist türkischer Herkunft, die zunächst nicht für neonazistisch inspiriert eingeschätzt werden sollte, sprechen eine Sprache, auf die Menschen wie Mesut Özil verstört reagieren mussten und müssen.

Mesut Özils Abrechnung mit seinem Verband, der ­Rücktritt als Nationalspieler, die ­Kritik an Rassismus an der DFB-Spitze und andernorts wurden von SPD-Justizministerin Katarina Barley zu Recht als „Alarmzeichen“ charakterisiert. Es ist mehr als das: Özils wütender Hilferuf ist auch ein Symbol für die ­Wünsche im DFB (und in Deutschland), aus der Fußballnationalmannschaft wieder die kernige Truppe früherer Tage zu gestalten – ohne „Multikulti-Kuddelmuddel“.

taz zwei