Fakten, Wahrheit und der Krieg in Syrien: Auf dem Friedhof des Postfaktischen

Auch wenn viele es anders sagen: Es gibt sie, die eine Wahrheit, auch im Krieg, auch in Syrien. Und es lohnt sich, nach ihr zu suchen.

Zeichnung zweier Menschen an einem Mikroskop

Wahrheit gibt es nicht? Oh doch Illustration: Katja Gendikova

Wie oft haben Sie schon gehört, dass das erste Opfer des Krieges die Wahrheit ist? Und dass man, etwa im Syrienkonflikt, keiner Seite trauen könne, weil alle nur Propaganda verbreiteten und einen „Krieg der Bilder“ führten? Wahrscheinlich sehr oft. So oft, dass manche Zeitungsleserin und mancher Fernsehzuschauer irgendwann beschloss, gar nichts mehr zu glauben. Und viele Journalisten resigniert dazu übergingen, alles abzubilden, was zu einem Ereignis gesagt wird. Giftgasangriff in Syrien? „Assad war es“, sagen die einen, „die Rebellen waren es“, behaupten die anderen.

Am Ende bleibt das Gefühl, es gar nicht wissen zu können, weil die Wahrheit in diesem Krieg seit Langem gestorben ist. Schon sind wir in die Falle getappt. Die Falle der Verschwörungstheoretiker und Fake-News-Verbreiter, die sich nichts sehnlicher wünschen, als dass alles, was jemals untersucht, recherchiert und belegt wurde, auf dem Friedhof des Postfaktischen landet. Wo es mit so vielen „alternativen Fakten“ zugeschüttet wird, dass niemand mehr weiß, was und vor allem wem er noch glauben soll und sich kaum jemand die Mühe macht, nach der Wahrheit zu graben.

Dabei gibt es sie, die Wahrheit – erst recht im Krieg. Denn dort passieren Verbrechen, die Täter und Opfer kennen, sodass ihre Aufklärung nur eine Wahrheit – nämlich den Tathergang – zutage fördert. Der Satz von der Wahrheit als Opfer des Krieges stammt aus dem Jahr 1914. Er besagt, dass Kriegsparteien ungeachtet der Tatsachen gerne ihre Versionen des Geschehens verbreiten.

Das sollte nicht dazu führen, dass wir die Wahrheit zu Grabe tragen, es sollte im Gegenteil dazu ermutigen, sie zu suchen. Aber ist Wahrheit nicht relativ? Hat nicht jeder seine eigene Wahrheit? Nein, jeder hat seine Wahrnehmung, seine Sichtweise auf bestimmte Ereignisse. Genau diese Unterscheidung ist im Krieg grundlegend: Wahrheit lässt sich objektiv ermitteln, Wahrnehmung ist subjektiv.

Viele unterschiedliche Versionen des Krieges

In Syrien gibt es so viele Versionen dieses Krieges wie es Syrer gibt. Jeder Einzelne hat gute Gründe, die Dinge so zu sehen, wie er sie sieht – je nachdem wo und wie er den Krieg erlebt hat. Wer an der Küste keine Angst vor Luftangriffen haben musste oder in den kurdischen Gebieten im Nordosten relativ sicher war, denkt anders als die Bewohner von Ostghouta oder Ostaleppo, die über Jahre von dem Regime bekämpft wurden.

Bei einem Luftangriff der US-geführten Militärkoalition im Osten Syriens sind Menschenrechtlern zufolge mindestens 43 Menschen getötet worden. Unter den Opfern im letzten Rückzugsgebiet der Terrormiliz „Islamischer Staat“ seien überwiegend Zivilisten teilte die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte mit. Die Anti-IS-Koalition wies die Darstellung zurück.

Die Beobachtungsstelle erklärte, die Bombardements hätten Häuser in dem Dorf Hadschin an der Grenze zum Irak getroffen. Dort kämpfen kurdische Truppen momentan mit US-Luftunterstützung, um die Dschihadisten aus dem Gebiet zu vertreiben. Das US-Militär erklärte in einer Mitteilung, die Anti-IS-Koalition habe in der Gegend zwischen Freitagabend und Samstagnachmittag 19 Angriffe ausgeführt, die sich gegen Stellungen des IS gerichtet hätten. In einer anschließenden ersten Einschätzung sei man zu dem Schluss gekommen, dass es keine Hinweise gebe, dass sich Zivilisten in der Nähe der Ziele befunden hätten.

Wer in oppositionellen Orten Freiheit und Selbstorganisation kennengelernt hat, hat andere Ansprüche als die Menschen, die vier Jahre unter dem sogenannten Islamischen Staat (IS) gelitten haben und dann von den USA bombardiert wurden.

Daneben gibt es im Syrienkonflikt Einschätzungen sogenannter Experten. Auch sie sind nicht mit der Wahrheit zu verwechseln, sondern stehen grundsätzlich zur Debatte. Im Optimalfall kennt ein Experte das Land persönlich, beherrscht die Sprache, liest viele unterschiedliche Quellen und folgt bei seinen Recherchen journalistischen Prinzipien. Nur dann kann er puzzeln. Also die Tausenden von Informationen, Meinungen, Videos und Nachrichten, die im Internet zu Syrien kursieren, einschätzen, in ihren Kontext setzen und verständlich machen.

Je differenzierter die Analyse, desto anstrengender die Lektüre. Deswegen verkaufen sich einfache Erklärungen besser, vor allem, wenn sie selbstkritisch – also antiwestlich – daherkommen. Der Krieg in Syrien wird dann wahlweise auf einen westlichen Regimewechsel, einen geplatzten Pipelinedeal oder eine Anti-Iran-Intervention reduziert.

Syrer tauchen kaum auf

Syrer tauchen in diesen geostrategischen Planspielen um Geheimdienstdokumente und Rohstoffe bezeichnenderweise kaum auf – zumindest nicht als Handelnde, höchstens als Opfer von Missbrauch und Manipulation. Dadurch machen sich ihre Verfechter ausgerechnet das zu eigen, was sie kritisieren: eine zutiefst paternalistische Sichtweise. Als wären Syrer ohne die CIA nicht in der Lage, gegen ein Unrechtsregime aufzustehen.

Vor allem Linke und Friedensbewegte greifen die Thesen von Regimewechsel und Pipelines gern auf, weil sie in ihr Jahrzehnte altes Denkschema von „Gut“ (antikapitalistischer Osten) und „Böse“ (rohstoffgieriger imperialistischer Westen) passen. Dabei finden sich besonders unsoziale Auswüchse eines entfesselten Kapitalismus inzwischen in Russland und China, Syrien steht für Neoliberalismus und Nepotismus in Reinform.

Außerdem gibt es in der internationalen Politik grundsätzlich keine Guten und Bösen, sondern nur Interessen. Außenpolitisch verfolgt jeder Staatsführer die Belange des eigenen Landes oder der eigenen Klientel – ob Donald Trump oder Kim Jong Un, Angela Merkel oder Wladimir Putin. Eine moralische Überlegenheit ergibt sich höchstens aus der Wahl der Mittel zur Durchsetzung dieser Interessen, da diese internationales Völkerrecht berücksichtigen müssen, was sie – auf allen Seiten – selten genug tun.

Trotzdem gibt es in Syrien Gute und Böse, denn bei menschlichem Handeln gelten sehr wohl moralische Standards. Ein Arzt, der Medikamente in ein abgeriegeltes Gebiet schmuggelt, tut Gutes, ein Söldner, der sich an einem Checkpoint persönlich bereichert, nicht. Geheimdienstchefs, die sadistische Folter in ihren Haftzentren als legitimes Mittel der Einschüchterung betrachten, sind nach menschlichem (nicht westlichem) Verständnis ziemlich böse.

Womit wir wieder bei der Wahrheit sind

Genauso wie Rebellenführer, die ihr Bedürfnis nach Rache an gefangenen Soldaten ausleben. Ein unbewaffneter junger Mann, der für Freiheit demonstriert, ist besser als der Soldat, der auf ihn schießt, oder sein Vorgesetzter, der ihn dazu zwingt.

Diesen moralischen Kompass drohen wir in Syrien zu verlieren, wenn wir vorgeben, nichts zu wissen, weil alle Seiten nur versuchten, mit Manipulation und Inszenierung unsere Wahrnehmung zu beeinflussen. Am Ende verwechseln wir Verbrecher und Leidtragende und erweisen damit jenen Wahrheitsverweigerern einen Dienst, die jedes Gerücht im Internet dankbar aufgreifen, um das Regime Assads vom Täter zum Opfer zu machen.

Manche Pseudolinke haben den syrischen Konflikt so an ihr ideologisiertes Weltbild angepasst, dass sich eine „demokratisch legitimierte syrische Regierung“ gegen „westlichen Imperialismus zur Wehr setzt“.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Womit wir wieder bei der Wahrheit sind. Es gibt in diesem Konflikt Tatsachen, die nicht zu leugnen sind. Der syrische Präsident ist nicht durch Wahlen legitimiert, da diese nicht frei, nicht geheim und nicht gleich sind. 43 Jahre lang ließen sich die Assads per Referendum ohne Gegenkandidaten im Amt bestätigen. Der gesamte Wahlvorgang liegt vom Zulassungsverfahren bis zur Stimmenauszählung in den Händen des Regimes.

Andere Darstellungen halten sich hartnäckig

Auch in Sachen Giftgas und Chlorin gibt es eine öffentliche Faktenlage. Von 39 seit 2013 dokumentierten Fällen schreibt die unabhängige UN-Untersuchungskommission 33 dem Regime zu, für die übrigen sechs lässt sich keine eindeutige Täterschaft nachweisen. Wann immer in Syrien Sarin eingesetzt wurde, stammte es aus den Beständen des Regimes. Das ergab ein Abgleich der Proben mit den Stoffen, die Damaskus der Organisation für das Verbot von Chemiewaffen (OPCW) zur Vernichtung übergeben hatte.

Daneben dokumentiert die UN-Kommission seit Jahren die gezielten Angriffe des Regimes und seiner Unterstützer auf zivile Infrastruktur wie Krankenhäuser, das Aushungern von Zivilisten als Kriegswaffe sowie die systematische Tötung von Zivilisten in den Haftzentren des Regimes.

Berichte internationaler Nichtregierungsorganisationen wie Human Rights Watch, Amnesty International und Ärzte ohne Grenzen bestätigen diese Methoden, die juristisch in die Kategorien Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit fallen. Gegen Assads persönlichen Sicherheitsberater, Ali Mamlouk, und Luftwaffen-Geheimdienstchef Jamil Hassan liegen deshalb internationale Haftbefehle vor.

Und doch vertraut eine wachsende Zahl „kritischer Bürger“ im Internet kursierenden Verschwörungstheorien mehr als einer UN-Untersuchung, die wissenschaftliche Standards erfüllen muss. Etwa im Fall des Sarinangriffs auf Chan Scheichun am 4. April 2017 mit mehr als 80 Toten. Obwohl das Expertenteam von OPCW und UN nach der Auswertung aller Hinweise – Uhrzeit, Einschlagkrater, Luftangriff, Symptome der Opfer, Blut- und Bodenproben – die syrische Regierung für den Angriff verantwortlich macht, halten sich andere Darstellungen hartnäckig.

Tatsachen sind zu respektieren

Werden diese von renommierten Journalisten oder Wissenschaftlern unterstützt, erscheinen sie umso glaubhafter, selbst wenn sich diese Experten auf zweifelhafte Quellen stützen und ihre Behauptungen durch den Untersuchungsbericht eindeutig widerlegt sind. Das Misstrauen gegenüber etablierten Institutionen und Medien ist offensichtlich so groß, dass einzelne „Wahrheitsfinder“ als mutige Underdogs gefeiert werden, egal welchen Müll sie erzählen.

Dies gilt auch für deutsche Professoren, die behaupten, sämtliche Chemiewaffenangriffe hätten „unter falscher Flagge“ stattgefunden, und damit den Boden der Wissenschaftlichkeit verlassen. Als Überzeugungstäter sind sie für die Verbreiter von Fake News besonders effektive Propagandainstrumente. Ein Wissenschaftler, der glaubt, was er sagt, wenn er Lügen verbreitet, ist das Beste, was Russia Today, Sputnik oder Fox News passieren kann. Denn seine abstrusen Behauptungen erfüllen den Zweck jeder Desinformationskampagne: so lange Zweifel an der Wahrheit zu säen, bis diese nur als eine von mehreren möglichen Versionen erscheint.

Redaktionen, die im Syrienkonflikt nur die ­Positionen der Kriegsparteien verlautbaren, ohne sich die Mühe zu machen, diese mit einfach zu recherchierenden Fakten abzugleichen, werden Teil des Spiels. Morgens Experte A und nachmittags Experte B zu interviewen, hat nichts mit ­neutraler Berichterstattung zu tun, sondern entlarvt die eigene Unfähigkeit, Fake News zu erkennen.

Wie also kann man der Wahrheit im Krieg Geltung verschaffen? Indem man unterscheidet: Wahrnehmungen müssen wir versuchen zu verstehen, Analysen kontrovers diskutieren. Tatsachen aber sind zu respektieren – auch in Syrien.

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ist Politikwissenschaftlerin und freie Autorin. Sie berichtete von 2001 bis 2008 aus Damaskus für deutsch­sprachige Medien. Ihr Buch „Der Syrien-Krieg – Lösung eines Welt­konflikts“ erschien 2018 bei Herder.

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