Eurovision Song Contest in Tel Aviv: Eine populäre Vision

Einst sollte der Eurovision Song Contest nur das neue Medium Fernsehen bewerben. Heute ist er Europas Spiegel und funkelnde Traumwelt.

Musikanten auf der Probebühne des Eurovision Song Contest

Funkelnder Spiegel Europas: Michael Rice aus Großbritannien performt, als ob es kein Brexit gäbe Foto: ap

TEL AVIV taz | Anfänglich ging es ausschließlich um die Promotion eines neuen Mediums, des Fernsehens. Noch Mitte der fünfziger Jahre war eine „Flimmerkiste“ (wie das Gerät flapsig genannt wurde, der sehr unsicheren Empfangslage mit Zimmerantennen wegen) der heißeste Scheiß. Die European Broadcasting Union (EBU) mit Sitz in Genf hatte als Netzwerk öffentlich-rechtlicher oder staatlicher TV-Anstalten die Aufgabe, Nachrichtenware und Filmchen füreinander bereitzustellen und die Technik der internationalen Verschaltung zu fördern.

Aus der britischen BBC wurde schließlich die Idee lanciert, einen Wettbewerb auszutragen – der würde Spannung verheißen und damit dem Medium Fernsehen zu mehr Popularität verhelfen. Der Schweizer Marcel Bezençon, damals Programmdirektor der EBU, ersann eine Musikshow, denn Musik sei das am intensivsten wirkende Transportmittel. So wurde der Eurovision Song Contest erfunden. Sieben Länder nahmen an seiner Premiere am 24. Mai 1956 in Lugano unter dem Titel „Gran Premio Eurovisione della Canzone Europea“ teil, außer der Schweiz alle Gründungsstaaten der späteren EU. Großbritannien fehlte, da es den Meldeschluss verpasst hatte.

Die Idee: Nationale TV-Sender delegieren zum Wettbewerb Künstler*innen, die ihre Länder repräsentieren. Eine Jury bewertet ihre Lieder, wobei sie nie für den Act des eigenen Landes stimmen darf, sondern immer den anderen Gunst erweisen muss. In alle ESCs floss dabei mehr als ein Reigen ästhetischer Produkte: Politisches natürlich, politische Gefühle jedoch in erster Linie.

Dass die Bundesrepublik elf Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg mitmachen durfte, war eine Geste des Goodwill ihrer Nachbarn. Kein Wunder, dass die Kandidat*innen der ARD bis 1970 kaum einen Blumenpott mit nach Hause nahmen: Deutsche Beiträge waren, von ihrer Altbackenhaftigkeit abgesehen, schon qua Jüngstgeschichte nicht besonders sympathieverdächtig.

Millionenteure Eigenproduktion

Der Reflex nach einem ESC war meist der gleiche: Schnitt ein Land schlecht ab – sehr oft: Norwegen, Finnland, Österreich, die BRD –, forderten die jeweiligen Medien am Montag nach der Show sogleich die Abschaffung des ESC, warfen den anderen Ländern Ignoranz vor oder grübelten über die Fragen, ob man keine Freunde in Europa habe. Als die EBU in den frühen 1990ern tatsächlich überlegte, seine wichtigste und millionenteure Eigenproduktion aus dem Jahresprogramm zu nehmen, waren es die neuen EBU-Mitglieder von Estland über Russland bis Ungarn, die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs vehement forderten, beim ESC mitzumachen.

Mit ihnen hat sich das Grundgewebe nicht verändert: Pro Land ein Lied, das nicht länger als drei Minuten sein darf. Gesungen werden muss live – ob Pop, Elektro, Funk, Gospel oder Folk. Das Publikum besteht dabei nicht nur aus Kosmopoliten mit Top-Checker-Allüren, sondern auch aus der Callcenter-Angestellten aus Coimbra, dem Müllwerker aus Minsk oder der Schaffnerin aus Plowdiw.

Vielen von ihnen ist Kulturelles aus anderen Ländern unbekannt. Der ESC ist deshalb auch Europäisierungsmotor – über alle Generationen und Klassenlagen hinweg. Bildungsbürger*innen aber belieben den ESC zu hassen, weil ihre selbstfantasierte kuratorische Kompetenz durch Urteile anderer, die sie nicht akzeptieren, ausgehebelt wird. Auch völkisch Gesinnte verabscheuen den ESC, weil ein solcher Wettbewerb nach Umvolkung schmeckt und nach Gutfinderei der Anderen.

Fetteste Form der Beschämung

Außerdem lässt sich beim ESC gemeinsam lästern, sich wundern, sich freuen für andere und sich ärgern über das Lied des eigenen Landes, weil es bescheuert ist. Die frühere ESC-Siegerin Linda Martin aus Irland sagte einmal: „It’s only a Song Contest. But in Europe.“ Keine Freude ist der ESC freilich für eine Gruppe: die der Sänger:innen, die im sogenannten Green Room sitzen und keine Punkte bekommen, während zwei Meter weiter ein:e andere:r sich irre freut, weil die Punkte nur so herabregnen. Letzte:r zu werden ist die fetteste Form der Beschämung – das zu verhindern ist das eigentlich Ziel aller.

Obendrein ist der ESC ein Spiegel europäischer Diversität. Das aber hat gedauert. Erst 1966 trat mit Milly Scott die erste schwarze Frau für die Niederlande an, die jüdische Künstlerin Esther Ofarim 1963 und die Tunesierin Amina rangierte 1991 als erste Muslimin für Frankreich in den oberen Rängen.

Für das Fernsehen ist der ESC eine technisch anspruchsvolle Show. Für das Publikum, und darauf kommt es politisch an, ist der ESC eine Traumwelt, die Blicke über die nationalen Gartenzäune hinweg zulässt. Sie kann Fantasien beflügeln, Jahr für Jahr, wenigstens, um es mit der ESC-Siegerin von 1982 Nicole zu sagen: „ein bisschen“.

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