„Würdigt uns. Engagiert uns“

Protest beim Berliner Gastspiel des Schauspielhauses Leipzig

Eine Gruppe junger asiatisch-deutscher KünstlerInnen protestierte am Dienstag in einem offenen Brief gegen das preisgekrönte Theaterstück „Atlas“ des Schauspielhauses Leipzig, das die Geschichte einer vietnamesischen Migrantenfamilie über drei Generationen vor dem Hintergrund der Leipziger Wendeereignisse erzählt. „Das Stück wurde ausschließlich von weißen Menschen geschrieben, inszeniert und gespielt“, heißt es in dem Protestbrief, den sie vor dem Deutschen Theater in Berlin verteilten, wo es ein Gastspiel gab. Sie sprachen von „strukturellem Rassismus und kultureller Aneignung“ der Geschichten einer Zuwanderergruppe durch Weiße und einer „Neuauflage kolonialer Traditionen“. Ihre Forderung: „Würdigt uns. Engagiert uns. Bezahlt uns.“

In dem Stück erzählt der österreichische Autor Thomas Köck eine fiktive vietnamesische Familiengeschichte über drei Generationen: Die aus Saigon stammende Großmutter hatte nach dem Kriegsende 1975 gemeinsam mit ihrer Tochter Vietnam als Bootsflüchtling verlassen, um dem Umerziehungslager zu entkommen. Als das Flüchtlingsboot kenterte, verlor sie ihre Tochter aus den Augen, hielt sie für tot. Doch die Tochter wurde gerettet, nach Vietnam zurückgebracht und von einer anderen Familie adoptiert. Als Erwachsene kam sie kurz vor der Wende als Vertragsarbeiterin in die DDR. Das Stück erzählt ihre Erfahrungen in der DDR und während der Wende. Die in der Wendezeit unter widrigen Umständen geborene Tochter ist heute erwachsen und findet über Archivrecherchen ihre Großmutter.

Die Autorinnen des offenen Briefes sind in Deutschland aufgewachsene KünstlerInnen mit asiatischen Wurzeln. Sie möchten anonym bleiben, um sich „vor rassistischen Anfeindungen und damit beruflichen Nachteilen“ zu schützen, die sich in ihren prekären Beschäftigungsverhältnissen im Kulturbereich nicht leisten könnten. Als asiatischstämmige Theaterschaffende würden sie vergeblich um einen Zugang zum Theaterbetrieb kämpfen und würden mit „Rollen voll rassistischer Stereotype und falscher Akzente“ abgespeist werden, heißt es im offenen Brief. Regisseur Phi­lipp Preuss stellte sich vor dem Deutschen Theater den jungen Leuten, die er einlud, sich die Vorstellung anzuschauen und im Anschluss mit ihm zu diskutieren. Das Angebot wurde ausgeschlagen.

Ein ethnischer Vietnamese hat am Theaterstück mitgewirkt. Dolmetscher Hong Quang Truong hat den Text ins Vietnamesische übersetzt, damit er für vietnamesische Besucher mit schlechten deutschen Sprachkenntnissen an die Wand projiziert werden kann. Er war Fachberater, ist als Off-Stimme zu hören und hat in Leipzig an einer Podiumsdiskussion mit vietnamesischen Zeitzeugen der Wendezeit mitgewirkt. Der 59-Jährige weist die Kritik zurück. „Mich hat gerade tief bewegt, dass nichtvietnamesische Schauspielerinnen und Schauspieler existenzielle Situationen der viet­namesischen Migrationsgeschichte mit großer Empathie nachempfunden und interpretiert haben.“ Dem Stück sei es zudem zu verdanken, dass viele seiner eigenen Erfahrungen und die seiner ethnischen Gruppe erstmals auf einer deutschen Theaterbühne gezeigt würden.

Dramaturgin Katja Herlemann sagt der taz: „Natürlich gibt es strukturellen Rassismus und auch im Kulturbetrieb.“ Trotz der Vorwürfe lehne sie aber die Forderung ab, asiatische Rollen ausschließlich mit asiatischen Schauspielern zu besetzen. „In der Konsequenz müssten wir den Hamlet immer mit einem Dänen besetzen und von dem Darsteller erwarten, dass er Lebenserfahrungen aus früheren Jahrhunderten mitbringt. Es gehört aber zur Verabredung des Theaters, dass Schauspieler für andere stehen.“ Marina Mai