Jörg Michel über den Wahlausgang in Kanada
: Abgemahnt

Er wankte, aber er fiel nicht: Anders als von vielen vorhergesagt, hat sich Justin Trudeau über die Ziellinie gerettet. Der kanadische Premierminister kann im Amt bleiben – trotz diverser Skandale, einiger Glaubwürdigkeitsprobleme, gebrochener Wahlkampfversprechen und geschrumpfter persönlicher Zustimmungswerte. Doch die kanadischen Wähler sind traditionell milde. Über 80 Jahre ist es her, dass sie einen mit Mehrheit regierenden Premier nach nur einer Amtszeit in die Opposition geschickt haben. Und so haben sie auch Trudeau eine zweite Chance gegeben – allerdings mit Warnruf. Im Parlament hat er keine eigene Mehrheit mehr und muss künftig mit kleinen Parteien kooperieren.

Die Botschaft der Wähler ist klar: Sie wollten Trudeau abmahnen, aber nicht abstrafen. Damit wollten sie sicherstellen, dass ihr Land auf fortschrittlichem Kurs bleibt und nicht dem Beispiel anderer Länder nach rechts oder rechts außen folgt. Eher das Gegenteil wird zukünftig der Fall sein. Alle drei potenziellen Partner Trudeaus im Parlament sind im Zweifel weiter links verortet als der Premier. Die Konservativen unter Oppositionschef Andrew Scheer gewannen in absoluten Zahlen zwar die meisten Stimmen, einen Durchbruch aber schafften sie nicht. Die neue rechtspopulistische People’s Party stieß kaum auf Resonanz. Tatsächlich haben zwei Drittel der Kanadier am Montag für Parteien links der Mitte gestimmt.

Auf der Weltbühne wird Kanada damit einstweilen seinem moderaten Kurs als Gegenpol zu den Populisten à la Trump treu bleiben. Als ein Land, das seine Grenzen für Zuwanderer und Flüchtlinge offenhält, das der internationalen Zusammenarbeit verpflichtet ist und das den Klimaschutz und Menschenrechte ernst nimmt. Das ist ein ermutigendes Zeichen.

Wie lange sich Trudeaus geschwächte Regierung im Amt halten kann, steht auf einem anderen Blatt. In Kanada enden Minderheitsregierungen meist vorzeitig. Gut möglich also, dass die Wähler schon in zwei bis drei Jahren wieder an die Wahlurnen müssen. Bis dahin hat Justin Trudeau Zeit, verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen.

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