Forscherin über umstrittenen Begriff: „Heimat rehabilitieren“

Die Literaturwissenschaftlerin Susanne Scharnowski kritisiert den hysterischen Umgang mit Heimat – und plädiert für ein zeitgenössisches Verständnis.

Kleingartensiedlung Groß-Sand in Hamburg mit deutscher und türkischer Flagge. Foto: J. Arlt/laif

taz: Frau Scharnowski, Ihr Buch heißt „Heimat. Die Geschichte eines Missverständnisses“. Braucht der Begriff Rehabilitierung?

Susanne Scharnowski: Seit wir eine Heimatdebatte haben, werden ständig drei Thesen wiederholt. Erstens: Die Romantiker haben dafür gesorgt, dass Heimat so stark emotionalisiert, aber auch politisiert wurde: als Synonym für Volk und Nation. Zweitens: Heimat ist ein Wort, aber auch ein Konzept, das es in anderen Sprachen, in anderen Kulturen nicht gibt. Und aus dieser Annahme folgt dann sehr schnell das Dritte: Heimat hat viel mit Nation zu tun, aber auch mit Nationalismus, und dann wiederum mit Nationalsozialismus. Diese drei Missverständnisse habe ich untersucht. Ich bin an die Quellen zurückgegangen – und stellte fest, es ist anders, komplizierter.

Selbst wenn Heimat ursprünglich wenig mit Nation und Volk zu tun hatte, ist der Begriff oft mit Nationalismus verbunden. Wie wollen Sie das trennen?

Der Begriff ist immer wieder von der politischen Rechten besetzt worden, aber soll die das letzte Wort behalten? Umfragen zufolge verbinden 85 bis 90 Prozent der Bevölkerung ausschließlich Positives mit dem Begriff, an die Nation denken dabei nur 7 Prozent. Trotzdem gibt es Reaktionen, die man schon als etwas hysterisch bezeichnen kann: Im Sommer 2018 sagte Klaus Theweleit bei einem Kongress in Hamburg sinngemäß: „Eine Gesellschaft, die sich auf Heimat beruft, ist potenziell mörderisch.“ Das finde ich fast so problematisch, als wenn sich der Thüringer Heimatschutz auf Heimat beruft. Insofern glaube ich tatsächlich, Heimat sollte rehabilitiert werden, und sei’s nur, um eine politische Debatte zu haben, die nicht auf Spaltung aus ist.

Die Debatte ist hoch emotional. Literatur- oder Diskursanalysen dringen da kaum durch.

Ich setze etwas altmodisch auf Kontext. Ein Beispiel: Während dieser Heimat-Debatten wurde immer wieder der Wanderer über dem Nebelmeer von Caspar David Friedrich als Bild herangezogen. Was hat der mit Heimat zu tun? Er stellt eigentlich das Gegenteil von Heimat dar, einen einsamen Gipfelstürmer, weit weg vom Tal, von Dorf und Gemeinschaft, er schaut in die Wolken, in die Ferne. Insofern passt er sehr gut als Ikone der Romantik, aber überhaupt nicht als Illustration für Heimat.

Heimat gilt oft als regressiv, rückwärtsgewandt, als anti­emanzipatorisch. Ist das ein 68er-Erbe?

Das geht noch weiter zurück. Die Fünfziger waren die Jahre der Heimatvertriebenen, wie man sie im Westen nannte, in der DDR hießen sie Umsiedler. Sowohl DDR als auch BRD bezogen sich auf Heimat – nur betonte man im Westen die „alte Heimat“, im Osten die „neue“, den Sozialismus. Aber auch in Österreich gab es schon seit 1960 eine Antiheimatliteratur, die sehr böse auf das Dorfleben blickt. In dieser Zeit wurde der Zusammenhang konstruiert, dass ein positives Heimatbild untrennbar mit Faschismus oder Nationalsozialismus verbunden ist und dass das Bedürfnis nach Heimat regressiv ist, Kitsch oder eine falsche Idylle.

Die Literaturwissenschaftlerin unterrichtet am Institut für Deutsche und Niederländische Philologie an der FU Berlin. Ihr Buch: "Heimat. Geschichte eines Missverständnisses." erschien im wbg Verlag (Darmstadt 2019, 272 Seiten, 40 Euro).

Es gab auch linke Heimatbewegungen. Von den Lebensreformern bis zur Anti-AKW-Bewegung der 70er Jahre. Weisen sie ähnliche ideologische Muster auf?

Ich sehe alle Heimatbewegungen eher als Pendelbewegung, als Reaktion auf vorhergegangene Entwicklungen: Auf Heimat beruft sich meist, wer sich einseitig gegen technologischen Fortschritt und dessen schädliche Auswirkungen wendet. In den 60er Jahren versuchte man ja durch Rationalität in die Moderne zu kommen, da man den Nationalsozialismus als Rückfall in Barbarei oder Irrationalismus verstand. Danach entwickelte sich eine Gegenbewegung, die sich nach Wärme sehnte – Ernst Bloch sprach vom Kälte- und Wärmestrom. Dieser Wärmestrom sollte menschlichen Bedürfnissen nach Glück und Harmonie zur Geltung verhelfen. Vor diesem Hintergrund entstand die linke Heimatbewegung.

Wann wurde Heimat erstmals politisch instrumentalisiert?

Ich würde sagen: mit dem Ersten Weltkrieg. Da wurden zum Beispiel alte Lieder des 19. Jahrhunderts auf Postkarten gedruckt, auf denen die Soldaten ihre Liebsten umarmten. Das war echte Staatspropaganda. Die Heimatbewegung am Ende des 19. Jahrhunderts war dagegen eine Bürgerbewegung, eine Reaktion auf die Umbrüche durch die Industrialisierung; allerdings war das eine klassenspezifische Wahrnehmung. Es waren vor allem die Bildungsbürger, die sich um die Heimat sorgten. Sie sahen die malerischen vertrauten Landschaften verschwinden, also das, was wir heute kitschig finden, was es im 19. Jahrhundert aber noch gab: die alte Mühle am Bach, Hecken, Wäldchen und so weiter.

War Heimat ein rein bürgerlicher Topos?

Eher bildungsbürgerlich. Die Arbeiter hatten ganz andere Probleme, vor allem fürchterliche Arbeits- und Lebensbedingungen. Auch die Industriellen standen dieser Heimatbewegung äußerst skeptisch gegenüber. Denn Deutschland entwickelte sich sehr schnell zu einem Exportland, aus dieser Zeit stammt ja das letzte unserer positiven nationalen Selbstbilder. Es wollte Absatzmärkte erschließen, endlich auch Kolonialmacht werden. Das war, politisch gesehen, eine Antiheimatpolitik und passte überhaupt nicht zu der Rede von Scholle, Verwurzelung und Bauerntum. Da wird es dann Ideologie, wenn einerseits Heimat in politischen Statements aufgerufen wird, andererseits aber eine Politik betrieben wird, die das Gegenteil ist.

Kann man das auch auf die NS-Ideologie beziehen? Dort war man auf Expansion, Vernichtung und nicht auf Bewahrung aus.

Absolut. Die Nazis haben Heimat propagandistisch genutzt, ebenso wie auch das Schwarzbrot und die Autobahn, das größte Propagandaprojekt überhaupt; eine Synthese von deutscher Landschaft und deutscher Ingenieurskunst. Man liest oft, Blut-und-Boden-Ideologie und Heimat gehörten zusammen. Das trifft aber nicht zu. In der Heimatbewegung um 1900 geht es um ganz konkrete Orte, Landschaften, Bauten. Die Blut-und-Boden-Ideologie sieht den Boden in erster Linie als eine ökonomische Ressource und geht gerade nicht von einer Verbindung von Land und Leuten aus, sondern von der vermeintlichen Überlegenheit der „arischen“ Rasse, der dann das Recht zugesprochen wird, Land zu erobern, das offensichtlich von anderen bewohnt ist.

Im Moment läuft im Kino Thomas Heises Film „Heimat ist ein Raum aus Zeit“. Ist Heimat mehr Raum oder mehr Zeit? Oder ein Zeitraum, der nur in der Vergangenheit liegt?

Ich ziehe das Wort „Ort“ vor. Raum ist etwas, das man erobern kann. Das passt ganz gut zu „Blut und Boden“. Raum ist Ressource; Geopolitik hat immer etwas mit Räumen zu tun. Der Ort dagegen ist spezifisch, markiert, er hat Grenzen, eine Geschichte. Und so wie ich Heimat verstehe in einem zeitgemäßen Sinn, ist Heimat tatsächlich ein Ort, der wenig zu tun hat mit Herkunft: Heimat muss nicht unbedingt der Ort sein, an dem ich geboren bin. Heimat ist der Ort, mit dem ich mich identifiziere und wo Zugehörigkeit entsteht. Das braucht aber in der Tat Zeit.

Wie unterscheidet sich Herkunft von Heimat, kann man das trennen?

Unbedingt! Die Heimat als Herkunft kann man sich nicht aussuchen, aber sie prägt einen natürlich, und dem kann man sich nur begrenzt entziehen, auch wenn man sich eine neue Heimat sucht. Heimat ist aber mehr als nur diese passive Prägung; Heimat ist aktive Aneignung. Selbst in der Nachkriegszeit, als man von „alter“ und „neuer“ Heimat sprach, galt: Man kann mehrere Heimaten haben. Ich würde aber sagen: nicht unbegrenzt viele. Der Begriff der Identität fällt oft im selben Kontext. Ich spreche lieber von Identifikation; das hat mit dem Jetzt-Zustand zu tun, nicht nur mit der Herkunft. Heimat bildet für mich eine Brücke zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

Migration wird global immer stärker. Im Berliner Maxim-Gorki-Theater läuft eine Reihe unter dem Titel „De-heimatize it“. Ist das nicht das angemessenere Motto?

Ich glaube das nicht. Gerade in Zeiten, wo die Menschen unterwegs sind, denken sie umso mehr über ihre Heimat nach. Man muss auch differenzieren: Es gibt die erzwungene Migration und die freiwillige oder halb erzwungene, weil man vielleicht hofft, woanders ist es besser. Nur weil ich an einem anderen Ort lebe, heißt das noch lange nicht, dass ich mit meiner alten Heimat fertig bin. Was bedeutet das für eine Gesellschaft, wenn viele nicht wissen, wohin sie gehören? Ich glaube nicht, dass „De-heimatize“ die Lösung ist. Das hieße ja, die Individualisierung noch erhöhen. Und wir haben eh eine Gesellschaft, die wahnsinnig individualisiert ist.

Heimat ist ein Gefühl – das ist ein Satz, den die meisten Menschen unterschreiben würden.

Ich nicht. Das ist für mich eine Art Neoidealismus oder Neoromantik, eine Verinnerlichung, die mit der materiellen Welt wenig zu tun hat. Das suggeriert: Jeder kann im Prinzip überall Heimat „fühlen“, ganz unabhängig von seiner Umwelt. Als wären wir frei und unabhängig von der materiellen Welt. Das ist fast schon zynisch, wenn man auf Umweltzerstörung, Klimawandel, Plastik im Meer blickt.

Der Klimawandel ist doch ein Beispiel dafür, dass es um ein großes komplexes Ganzes geht und nicht mehr um „meinen Garten, mein Dorf, mein Land“.

Ja, aber ich würde eher die andere Sicht stark machen. Ich finde es gut, für das Klima auf die Straße zu gehen. Aber es gibt eben nicht nur die große, komplexe Welt, es gibt auch den überschaubaren Ort, an dem das Leben stattfindet.

Gibt es ein Menschenrecht auf Heimat?

Die Vertriebenen wollten 1950, dass dies im internationalen Recht anerkannt wird. Dazu ist es nie gekommen. Ich bekam nach einem Interview die Zuschrift einer Wissenschaftlerin, die in Neuseeland über den Heimatbegriff der Maori forscht. Doch: Auch die neuseeländischen „Ureinwohner“ haben nicht „immer schon“ dort gelebt. Kaum jemand hat immer schon an einem Ort gelebt. Die meisten ethnischen Gruppen oder Stämme sind irgendwann von woanders gekommen. Wenn man ein Menschenrecht auf Heimat festschreiben würde, würden sicher Ansprüche auf Territorien formuliert, und so würde man eine ganze Kette weiterer Kriege anzetteln.

Wie definieren Sie Heimat für sich persönlich?

Meine Herkunftsheimat ist das alte West-Berlin, eine intellektuelle Heimat, die Welt der Sprache und der Literatur, auch der englischen. Und jetzt lebe ich in einem ganz anderen Berlin, auch das ist Heimat. Das Verhältnis zur Herkunftsheimat und das zur Wahlheimat ist Veränderung und Schwankungen ausgesetzt. Man kommt, glaube ich, nie hundertprozentig an. Die Vorstellung, es könnte eine Gesellschaft oder einen Ort geben, an dem man hundertprozentig aufgehoben ist, ist auch eine Form von Utopiekitsch.

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