Videoüberwachung im Alltag: Die Macht über die Realität

Im öffentlichen und halböffentlichen Raum filmen immer mehr Geräte mit. Der Staat erlangt so zunehmend die Deutungshoheit darüber, was wahr ist.

Screenshot einer Kameraaufnahme dreier PassantInnen, ein Paar küsst sich.

Pariser Straßenszene („Paris Street View“) des Künstlers Michael Wolf aus Google Street View Foto: Michael Wolf/laif

Ein Feuerwehrmann wurde im Dezember 2019 in Augsburg von Jugendlichen totgeprügelt. Die Tat sorgte bundesweit für Aufsehen. Der Tathergang – das Handgemenge wie auch der tödliche Schlag – wurde von Überwachungskameras auf dem Augsburger Königsplatz aufgezeichnet. Die Aufnahmen führten zu einer schnellen Identifizierung und Festnahme der Tatverdächtigen.

Kurz darauf tauchte das Video eines Taxifahrers auf, der sich zum Tatzeitpunkt in der Nähe des Tatorts aufhielt und dessen an der Windschutzscheibe montierte Dashcam die tödliche Attacke mitfilmte. Auf dem Video ist zu sehen, wie ein Mann einen Schlag versetzt bekommt und zu Boden geht. Wer den Mann niedergestreckt hat, ist aufgrund der schlechten Bildqualität nicht genau zu erkennen.

Trotzdem floss das Bildmaterial in die Ermittlungsarbeit der Polizei ein. Die Verteidigung widersprach der Darstellung der Polizei, wonach das Opfer von der Gruppe umzingelt worden sei. Vielmehr habe es eine „wechselseitige Schubserei“ gegeben.

Das Studium der Videosequenzen führte zu ganz unterschiedlichen Rechtsauffassungen und Bewertungen. Während einer der Verteidiger vorbrachte, dass sich sein Mandant „passiv“ verhielt und damit nicht der Beihilfe zum Totschlag schuldig machte, insinuierte der Anwalt des Hauptverdächtigen, dass „die erste Initiative“ vom Geschädigten, sprich: dem Feuerwehrmann, ausging.

Geringe Beweiskraft

Der Fall zeigt einmal mehr die schwache Evidenz von Videoaufnahmen. Es gibt verschiedene Kameraperspektiven, aber die Schuld oder Unschuld eines Tatbeteiligten lässt sich nicht zweifelsfrei feststellen, selbst wenn man versucht, das Gewaltverbrechen in seine Einzelakte zu zerlegen.

Man sieht das ja beim „Videobeweis“ im Profifußball: In den Bundesliga-Stadien sind Dutzende Kameras installiert, die bis zu 300 Bilder pro Sekunde machen, die im Kontrollzentrum des „Kölner Kellers“ in einzelne Frames zerlegt werden, aber am Ende doch nicht den entscheidenden Beweis liefern. Man kann sich eine strittige Szene zehn Mal in der Wiederholung ansehen und ist am Ende doch nicht schlauer, ob es nun Abseits war oder ob ein Handspiel vorlag.

Die Unterordnung eines konkreten Falls unter eine abstrakt-generelle Regel ist immer eine Auslegungs- und Wertungsfrage. Das ist in der Justiz nicht anders als im Sport. Doch jenseits der Debatte über Datenschutz und Überwachung lauert in dem Augsburger Fall ein neuer Kulturkampf, eine erkenntnistheoretische Schlacht über die Frage, was in Zeiten digitaler Bilderflut als wahr und unwahr gelten kann.

Die Installation von Videokameras operiert mit der Fiktion, man könne so etwas wie eine letztgültige Wahrheit produzieren: Den Ladendieb oder Straftäter im Bild festhalten und damit einen untrüglichen Beweis für dessen Schuld liefern, das war schon immer die arg moralisch aufgeladene Vision der Kriminalistik. Die Polizei in Mannheim hat sogar eine intelligente Kameratechnik getestet, bei der Algorithmen bestimmte delikttypische Verhaltensmuster wie Rennen, Schlagen oder Treten erkennen sollen.

Bloß: Wie will eine Software zwischen einer Person differenzieren, die zum Bus rennt, und einem Taschendieb, der wegrennt? Wird der Zuspätkommer kriminalisiert und unter Generalverdacht gestellt? Gewiss, auch ein Streifenpolizist, der Bahnhofshallen nach Obdachlosen scannt, operiert wie ein Musterkennungsalgorithmus. Doch in den kriminalistischen Vorstellungen schwingt die erratische Annahme mit, dass Bildmuster valider sind als subjektive Zeugenaussagen.

Die empirischen Beispiele belegen das Gegenteil. Die vielen unterschiedlichen Streams sorgen, wie in Augsburg, dafür, dass sich die Bilder widersprechen und wenig aussagekräftig sind. Wer sich jemals die Überwachungsbilder, die in der Fahndungssendung „Aktenzeichen XY … ungelöst“ ausgestrahlt werden, angesehen hat, weiß, dass diese häufig kaum verwertbar sind – vor allem, wenn Täter maskiert sind oder ihr Aussehen verändert haben.

Natürlich stellen Bilder aus Videokameras eine verzerrte Sicht dar – sie müssen gar nicht manipuliert werden, um manipulativ zu sein. Über ihnen liegt ja schon a priori der Filter des Verdachts. Die Annahme, Kameras als „Techniken der Wahrheitsproduktion“ (so nannte Foucault das Geständnis) einzusetzen, die jede Form der Grauzone ausschließen, entlarvt ja in ihrer Ambivalenzleugnung die totalitäre Stoßrichtung. Warum installiert man dann trotzdem immer mehr Kameras, obwohl damit kaum neue Erkenntnisse gewonnen werden?

Der Soziologe David Lyon hat in seinem Werk „Theorizing Surveillance“ (2006) die interessante These aufgestellt, dass Überwachungstechnologien zunehmend als „neue Form der Wahrheit“ implementiert würden, „die realer und autoritativer als jeder subjektive Realitätssinn von Individuen“ sei: Wenn sich die Menschen daran gewöhnen, „mit multiplen, vagen, konfligierenden und häufig widersprüchlichen Informationsströmen zu leben“, bestehe die Gefahr, „dass das einzige Wissen, das den Status der Realität zuerkannt bekommt, jenes sein wird, das mit Risiko bzw. Sicherheit verbunden ist und von Geheimdiensten und anderen Risikomanagement-Netzwerken stammt“.

Das Problem: Dieses Herrschaftswissen ist dem Bürger nicht zugänglich, weil es von den Behörden unter Verschluss gehalten wird. Das heißt, er verliert über die Technik auch den Zugang zu Wahrheits- und Realitätsdiskursen. Was die Überwachungskameras im öffentlichen Raum aufzeichnen, sieht der Bürger in der Regel nicht.

Videoüberwachung als staatliche Machtdemonstration

Auch beim Augsburger Fall monierte ein Anwalt der Verdächtigen, dass er das Beweismittel der Videoaufzeichnungen nur in den Räumen der Kriminalpolizei einsehen konnte. Videoüberwachung im öffentlichen Raum ist damit nicht nur eine staatliche Machtdemonstration, sondern paradoxerweise in ihrer Aufklärungsfunktion ein Raum gewordenes Arkanum. Der alles sehende Staat macht seine Erkenntnisse unsichtbar.

Lyon spricht von einer „epistemologischen Gegenmodernisierung“ – einer erkenntnistheoretischen Schub­umkehr, die in der Debatte kaum Beachtung findet. Indem Videokameras, Mikrofone und andere elektronische Medien ihre eigene Realitätsproduktion autorisieren und andere Wahrheiten gewissermaßen qua Technik ausschließen, stützen sie diese Praxis diskursiv ab und legitimieren ihre eigene Installation.

Die Wahrheit liegt nicht mehr im Auge des Betrachters, sondern im Auge der Technik. Ein Prozess, der letztlich auch der Immunisierung von Überwachungstechnologien Vorschub leistet und Technologiekritik schwieriger macht.

Lyon argumentiert, dass mit der vermeintlich objektiven Überwachungstechnologie ein neuer Positivismus Einzug in die Gesellschaft halte. „Man kann sagen, dass die epistemologische Revolution, die durch die totalitäre Erfahrung im 20. Jahrhundert ausgelöst wurde, ein normatives Vakuum geschaffen hat, in dem eine neue, extreme Form positivistischer Wahrheit, die durch Überwachung generiert wird, einen fruchtbaren Boden gefunden hat.“ Der technisierte Ansatz, der in „globalen Überwachungskulturen“ vorherrsche und Programmierer beeinflusse, würde die „systemischen Codes“ einer moralischen Reflexion entziehen.

Disziplinierender Algorithmus

Es ist ja nicht nur so, dass die Überwachungskamera den kontrollierenden Blick des Busfahrers oder Ordnungspolizisten ersetzt, der das Schulkind tadelt, wenn es einen Kaugummi auf den Boden wirft (im Mannheimer Modell soll der Algorithmus der Disziplinarapparat sein), sondern die Apparate die zugrundeliegenden Skripte und Ereignisse als gegeben voraussetzen. Die Bilder sind da, als Instanz gesetzt, die Aussagen müssen sich ihnen unterordnen. Ein neuer Kontrollraum entsteht: Nicht der Überwacher steht im Fokus, sondern der Überwachte.

Dass man heute bei jeder Gelegenheit das Handy zückt und das Geschehen mitfilmt oder fotografiert, verweist auf eine ontologische Deformation der Gesellschaft, in der man allem und jedem misstraut, in der man zuweilen selbst den eigenen Augen nicht trauen kann, dafür aber immer noch der eigenen Überwachungstechnik.

Die Aufnahmen, die Standortdaten – sie sprechen zunächst für sich (selten für den Beschuldigten). Die Polizei kann den Vorwurf der „Lügenpolizei“, der ihr in sozialen Netzwerken entgegenschallt, auch nur entkräften, indem sie ihre Arbeit dokumentiert, sprich, Körperkameras (Bodycams) an die Uniformen heftet, was das technoid-faktenskeptische Klima dieser Zeit unterstreicht.

Mediale Militarisierung

Die Gefahr dieser medialen Aufrüstung, die ja auch einer Militarisierung des öffentlichen Raums Vorschub leistet, besteht darin, dass die eigentlich als Gegenüberwachungswerkzeuge (zur staatlichen Macht) gedachten Apparate wie Dashcams oder Smart­phones gegen die offiziösen, gewissermaßen amtlich beglaubigten Bilder staatlicher Überwachungskameras oder Bodycams nicht ankommen und darüber ein Realitätskrieg ausbricht. Denn je mehr Kameras im Einsatz sind, desto mehr „Versionen“ der Wirklichkeit gibt es, und desto größer erscheint die Notwendigkeit, eine „offizielle“ Darstellung des Geschehens zu statuieren.

So führt der Ausbau von Videoüberwachung zu einer zunehmenden Autoritarisierung der Gesellschaft – nicht nur, weil der Einzelne ständig unter Beobachtung steht und dadurch seine Freiheit verliert, sondern auch, weil durch die staatliche Bilderproduktion eine Realitätskontrolle stattfindet und Diskursräume schwinden.

Man kann als Bürger der vermeintlichen Objektivität beziehungsweise „Wahrheit“ behördlicher Videokameras nichts entgegensetzen, und man kann die Bilder auch nicht kritisch hinterfragen, weil sie (vor-)gegeben sind. So dokumentiert die Gewaltattacke in Augsburg letztlich auch die Ohnmacht einer Öffentlichkeit, die den überwachenden Blick des Staates nicht mehr umkehren kann – und zum Zaungast ihrer eigenen Sache verurteilt ist.

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