Lehren aus der Coronakrise: Virus frisst Ideologie

Wer die aktuellen Zumutungen nicht für Änderungen nutzt, wird umsonst gelitten haben. Ein Rückfall wäre gefährlich.

ein verkleideter Mensch

Yamraj, der Hindugott des Todes: abschreckende Verkleidung als Coronaaufklärung in Delhi Foto: Adnah Abidi/reuters

Wer heute über die Zukunft spricht, tut dies aufgrund zweier stark divergierender Annahmen: Wir lebten vor Ausbruch der Pandemie entweder in einer funktionierenden, zufriedenstellenden Normalität oder in zerrütteten Verhältnissen. Von dieser grundsätzlichen Haltung hängt die Reaktion auf die brüchige Gegenwart ab. Entweder erwarten wir das Schlimmste oder wir schöpfen neue Hoffnung. Selten waren Dystopie und Utopie so nahe beieinander, genau gesagt 1,5 Meter voneinander entfernt.

Krise, gewiss das Wort des Jahres 2020, bedeutet in der griechischen Urform krísis laut Duden „Entscheidung, entscheidende Wendung“. Eine Chance somit: Wer die jetzigen Zumutungen und Herausforderungen nicht für grundsätzliche Verbesserungen nutzt, der wird umsonst gelitten haben. Ein Rückfall in den alten Status quo wäre die gefährliche Folge einer rückwärtsgewandten Lethargie. Denn ein Land, ein Weltsystem, das von einem Virus so schnell in die Knie gezwungen werden kann, war schon davor krank.

Diese Diagnose ist nicht einmal gewagt oder umstritten. Das, was sich Wohlstand nennt, basiert auf einer noch nie dagewesenen Ausbeutung von Natur und Mensch. Sowohl die ökologischen Zerstörungen als auch das extreme Anwachsen der Ungleichheit, vielfach dokumentiert und analysiert, sind allgemein anerkannt, nur nicht in Kreisen von Realitätsleugnern und systemrelevanten Ideologen.

Letzteren macht die Krise nun den Garaus. Viel ist geschrieben worden über die Einschränkung der Grundrechte im Hauruckverfahren, weniger darüber, dass fast alle neoliberalen Prinzipien über Nacht über Bord geworfen wurden: der vielgerühmte freie Markt, das oft beschworene Prinzip gesellschaftlicher Freiwilligkeit (bei Produktion und Konsum wohlgemerkt) und das ewige Heil im Wirtschaftswachstum.

Die Apologeten des freien Markts sind verstummt, denn wir haben im Belastungstest sein Versagen erlebt. Länder oder Regionen, die ihr Gesundheitssystem nach profitorientierten Kategorien umgebaut haben (Beispiel Lombardei), haben sich tödlich umstrukturiert. Und obwohl Pandemien regelmäßig auftreten, haben sie für diesen Fall nicht angemessen vorgesorgt, weil Gemeinwohl nicht profitabel ist. Dem freien Markt gelingt es nicht einmal, selbst Monate nach dem Ausbruch, Masken in ausreichender Zahl zu produzieren.

Schon wenige Tage nachdem das Virus Teile der Wirtschaft unvermeidlich zum Erliegen gebracht hat, ertönten Kassandrarufe, weil eine Rezession von 3 Prozent (neuerlich korrigiert auf 6 Prozent) abzusehen ist. Wie soll man einen Organismus bezeichnen, der in seiner Existenz bedroht ist, weil er um 3 oder 6 Prozent schrumpft?

Als Lösung wird mit nicht existierendem Geld gegossen, keineswegs nach dem Gießkannenprinzip – weltweit geben die Staaten Milliarden aus zur „Rettung“ jener Wirtschaftsteilnehmer, in deren Händen Vermögen ohnehin bereits stark konzentriert ist. Die folgende Verschuldung wird nur durch starkes Wirtschaftswachstum zu überwinden sein, was wiederum zu weiterer Umweltzerstörung und Ungerechtigkeit führen wird.

Kaum war die Epidemie zur Pandemie ausgewachsen, wurden weltweit dirigistische Instrumente eingesetzt, die öffentliche Hand war gefordert, die Konzerne verkrochen sich (oder versuchten sich à la Adidas mit erhöhter Asozialität durchzumogeln). Allerorten wurde staatliche Unterstützung oder Verstaatlichung gefordert. Was einen doch sehr erstaunen muss, waren doch diese Instrumente zuvor allesamt als ineffektiv und schädlich abgetan worden.

Verblüffend ist, dass jene Menschen, die eine höhere Steuer auf SUVs als unerträglichen Eingriff in ihre Freiheit ablehnten, nun bereit sind, ordnungspolitische Einschnitte zu akzeptieren, etwa, dass sie ohne zwingenden Grund gar nicht Auto fahren dürfen. Was passiert wohl, möchte man so einem Homo Eintagsfliege zurufen, wenn uns ein ökologisches Desaster ereilt? Es wird mit Einschränkungen reagiert werden, gegen die kaum jemand protestieren wird, weil es sich schlecht gegen die Faktizität der Katastrophe argumentieren lässt. Abgesehen von solchen politischen Ironien haben die Ereignisse der letzten Wochen klar aufgezeigt, wieso Gefährdung (die heutige Bedeutung von „Krise“) zur Wendung führen muss.

Wir müssen die Grundlagen unseres Systems infrage stellen. Wir waren nicht so gesund, wie viele von uns sich eingebildet haben. Wir haben das menschliche Leben unter- und Waren überbewertet. Nun sehen wir uns einer gesamtgesellschaftlichen Triage gegenüber, bei der wir entweder Gesundheit oder Wohlergehen opfern müssen. So wie die Menschen im Globalen Süden, die täglich zwischen Überleben und Leben hin und her geworfen werden.

Wir werden diese Misere ohne eine mutige Neugestaltung der Weltwirtschaft nicht mit Würde überstehen. Wir müssen uns vom Diktat des Wirtschaftswachstums befreien, wir müssen alles, was lebenswichtig ist, in Gemeinschaftsvermögen überführen. Und wir benötigen einen globalen Lastenausgleich, eine weltweite Sozial- und Gesundheitsversorgung, denn hinter der gegenwärtigen Krise lauern viele andere, etwa die drohende Hungersnot in Ostafrika.

Fangen wir an mit dem hoffentlich bald entwickelten Impfstoff gegen Covid-19. Er sollte nicht der Pharmaindustrie überlassen werden. Impfstoffe gegen Diphtherie, Tetanus und Masern sind von der öffentlichen Hand hergestellt und verteilt worden. Als Jonas Salk, der Erfinder des Polio-Impfstoffs, gefragt wurde, wer das Patent besitze, antwortete er: „Alle Menschen. Es gibt kein Patent. Können Sie die Sonne patentieren?“ Leider leben wir in einem System, das sich bislang anmaßt, die Wunder der Natur zu privatisieren, während es diese gleichzeitig zerstört. Höchste Zeit zu erkennen, wie krank das ist!

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Ilija Trojanow

ist Schriftsteller, Weltensammler und Autor zahlreicher Bücher, darunter: „Macht und Widerstand“ (S. Fischer Verlag). Im Jahr 2017 erschien, ebenfalls bei S. Fischer, „Nach der Flucht“.

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