Annäherung an brachiale Mythen

Zum 75. Geburtstag von Rainer Werner Fassbinder gibt es die Doku „Fassbinder – lieben ohne zu fordern“ von Christian Braad Thomsen als DVD

Rainer Werner Fassbinder und Irm Hermann (4. 10. 1942–26. 5. 2020) bei den Dreharbeiten zu „Angst essen Seele auf“ Foto: Filmgalerie 451

Von Claudia Lenssen

Sonnenkönig oder Gruppenmensch? Förderer oder Ausbeuter? Um keinen anderen deutschen Regisseur ranken sich ähnlich viele Mythen wie um Rainer Werner Fassbinder. Die schiere Fülle seines Werks – 60 Kino-, Fernsehfilme, Theaterstücke und Hörspiele in nur 15 Jahren Karriere – fasziniert, zumal selbst prominente Filmschaffende heute Jahre auf Finanzierung von Projekten warten müssen.

Doch die Aufbruchstimmung, die nach 1968 im Fernsehen und unter Förderern wirkte und Produktionsbedingungen schuf, die Fassbinders Schaffensdrang begünstigten, gerät aus dem Blick. Er war das Alphatier des Neuen Deutschen Films. Mit seinem Tod 1982 verlor die Marke an Glanz, just in dem Moment, in dem Filmfestivals das deutsche Kino ernst zu nehmen begannen. Fassbinder starb zu früh, um mit der Wucht seines Rebellengehabes international Fuß zu fassen.

Sein Werk gehört heute zu den am besten archivierten und beforschten, es ist durch widersprüchliche Anekdoten von Stars und Mitarbeitern mit einer Aura versehen. Eine Annäherung an Fassbinder ist dem dänischen Filmemacher Christian Braad Thomsen gelungen. Sein Porträt „Fassbinder – lieben ohne zu fordern“, das 2015 bei der Berlinale Premiere feierte, wird nun zu dessen 75. Geburtstag am 31. Mai auf DVD veröffentlicht. Es bietet die Chance, Spuren seiner Produktivität, existenzialistisch-anarchistischen Lebensphilosophie und Kino-Leidenschaft zurückzuverfolgen.

Der Däne lernte Fassbinder 1969 kennen, als dieser mit „Liebe ist kälter als der Tod“ erstmals bei der Berlinale eingeladen war und durchfiel. Auf das Interview mit dem trotz holprigem Beginn schnell zum Shootingstar avancierten Regisseur folgten weitere Gespräche. Fassbinder fühlte sich von Thomsen akzeptiert, offensichtlich von dessen bürgerlicher Ausstrahlung angezogen, als würde der dänische Filmhistoriker eine verborgene Kehrseite von Fassbinders narzisstischem Selbstbild als Außenseiter und „wahnsinniges“ Genie ansprechen. 30 Jahre ließ Thomsen sein Material ruhen, aus Furcht, sich mit privaten Aufzeichnungen auseinandersetzen zu müssen. Vor allem Fassbinders Aussagen zu „Despair“ kurz vor seinem Tod und die darin verarbeitete Faszination für den Wahnsinn als „Kur von der Gesellschaft“ und Ausdruck von Hoffnungslosigkeit schienen ihm zu mysteriös. Es sind im Unterschied zu anderen Porträts diese intimen Selbstzeugnisse, die Thomsens in sieben Kapitel aufgefächerte Analyse der Turbokarriere und ihrer psychologischen und historischen Voraussetzungen sehenswert machen. Er nähert sich als Cineast, erzählt im Off-Kommentar von der Begeisterung für Fassbinders Filmsprache, die es möglich macht, „das Bild wirklich zu erfassen“. Die Hommage zeigt anschaulich, dass Filmemachen nicht nur Profession, sondern radikale Lebensform für Fassbinder war, wie er als vernachlässigtes Kind das Kino als utopischen Fluchtraum entdeckte und aus seinem chaotischen Heranwachsen in der Nachkriegszeit ein diffuses Gefühl zwischen Aufgehobensein und Verlassenheit kultivierte. Dies übertrug er später in seine Rolle als dominanter Patron seiner Filmfactory.

Thomsen zeigt Fassbinders gebrochene Beziehung zur Nazi-Elterngeneration

Fassbinders Surfen durch die Genres wird deutlich, obwohl Thomsen wenige Filmausschnitte zeigt, den Regisseur stattdessen ausführlich beschreiben lässt, dass es darum ging, eine eigene Handschrift zu entwickeln, im Bewusstsein, dass ihm die „Naivität“ seiner Hollywood-Vorbilder abgeht. Thomsen bietet Schlüssel zu Fassbinders gebrochener Beziehung zur Nazi-Elterngeneration, dem latent inzestuösen Verhältnis zu seiner Mutter und dem starken Antrieb, sie durch zahlreiche Rollen als Nazi-Mitläuferin in seinen Filmen für ihre eigene Geschichte „zu bestrafen“. Er gibt Fassbinder-Stars wie der am Dienstag gestorbenen Irm Hermann Raum, um die Binnenwahrnehmung ihrer komplexen Beziehungsdramen mit Fassbinder offenzulegen. Filmemachen, aus der Machtposition eines besessen Arbeitswütigen, schien die einzige Möglichkeit für ihn zu kommunizieren.

Die widerstreitenden Seiten dieser Persönlichkeit gehören wie Spiegelbilder zusammen. Aus dem Kampf der beiden Seiten erklärt sich die Triebkraft von Fassbinders Kreativität. Unaufdringlich und jenseits des gängigen Kults macht Christian Braad Thomsen jedoch deutlich, dass es Zeit ist, den Genie­kult zu historisieren. Das Selbstverständnis, Machtausübung und Kunst in eins zu setzen, ist nicht erst seit #MeToo fragwürdig.

„Fassbinder – lieben ohne zu fordern“ (Regie: Christian Braad Thomsen, Dänemark 2015, DVD)