Aufruf zum Aufstehen gegen Rassismus

Sichtbar an die Nachkommen des deutschen Täterkollektivs gerichtet: Der stilbildende dreiteilige Film „Der Prozess“ von Eberhard Fechner über die Majdanek-Prozesse ist neu auf DVD erschienen

Eberhard Fechner (Mitte) bei den Dreharbeiten zu „Der Prozess“ Foto: absolut Medien

Von Silvia Hallensleben

Zwei neue Sammelbände zum Werk Eberhard Fechners gab es in jüngster Zeit, auch weil sein umfassender Nachlass im Archiv der Berliner Akademie der Künste zur Forschung freigegeben wurde. Doch auch vorher schon war der 1992 verstorbene Schauspieler und Regisseur, der nach seiner langjährigen Arbeit am Theater beim NDR auch filmischer Chronist deutscher Zeitgeschichte wurde, keineswegs vergessen. Besonders sein langer Dokumentarfilm „Der Prozess“ wurde immer wieder in filmwissenschaftlichen oder historischen Arbeiten zur Darstellung der Schoah und der NS-Verbrechen im Film als Referenz herangezogen und analysiert.

„Der Prozess“ war die Arbeit, die Fechner zu seiner bedeutendsten erklärte. Der Film begleitet den dritten Majdanek-Prozess, der vom November 1975 bis zum Juni 1981 beim Landgericht Düsseldorf gegen fünfzehn SS-Wachleute des NS-Arbeits- und Vernichtungslagers Lublin/Majdanek geführt wurde. Bald nach der Befreiung hatte es schon zwei Verfahren in Lublin gegen Hauptverantwortliche mit vielen Todesurteilen gegeben. Wegen der schwierigen Beweislage dreißig Jahre nach den inkriminierten Taten und vielen Störversuchen der Verteidigung wurde das Verfahren zu einem der längsten der deutschen Justizgeschichte.

Insgesamt acht Jahre (sechs mit Dreharbeiten und zwei im Schnittraum) widmete auch Fechner dem Film, für den er in siebzig ausführlichen Interviews Beteiligte des Verfahrens wie Staatsanwälte, Richter und Verteidiger, Zeug*innen und Prozessbeobachter*innen befragte – und auch fünf der Angeklagten, die vor dem Gericht zu ihren Taten geschwiegen hatten.

So kamen 230 Stunden Material zusammen, die zu geplanten 100 Filmminuten kondensiert werden sollten. Eine ungeheure inhaltliche und organisatorische Herausforderung, die von Fechner und Editorin Brigitte Kirsche mit Bravour, Fleiß und einem gewissen Maß an künstlerischem Ungehorsam gemeistert wurde. Denn das Endergebnis war – so würden wir es jedenfalls heute wohl nennen – eine dreiteilige Mini-Serie von insgesamt stattlichen 270 Minuten.

Dabei stehen quer zu der am chronologischen Ablauf orientierten Einteilung der Kapitel („Anklage“, „Beweisaufnahme“, „Urteile“) thematische Cluster, die weniger den Verlauf des Prozesses nachzeichnen als bestimmte markante Aspekte fokussieren – wie etwa die retraumatisierenden Erfahrungen vieler Opfer-Zeug*innen rund um ihre Aussagen oder die (altbekannten) Entlastungsstrategien der Täter. Ausführlich werden auch Aufbau und Arbeitsweise des Lagers selbst erläutert und Fragen von historischer Schuld und Verantwortung diskutiert.

Fechner wurde auch international stilbildend mit einer Form der Montage, die lange intensiv geführte Gespräche in ihre Satzatome zerlegt und kaleidoskopartig neu zusammenfügt. Diese Methode der dialogischen Montage wendet er hier in Perfektion an. Und sie ist ein exzellentes Werkzeug, um die Positionen der Beteiligten aufzufächern und in unterschiedlichen Konstellationen zu konfrontieren.

Da – mit Ausnahme zweier NS-affiner Verteidiger – statt der Namen nur die Funktionen der Personen genannt werden, macht der vielstimmige Chor Interferenzen wie Differenzen in den Strategien der Akteurs-Gruppen sichtbar. Als Erzählfaden und zur dokumentarischen Absicherung dienen Ausschnitte aus der zeitgenössischen Berichterstattung zum Prozess und historische Archiv-Fotos und Filme von Personen und Tatorten.

ARD und NDR strahlten das epochale Werk nur in den Dritten Programmen aus

Anders als etwa die Kollegen Marcel Ophüls oder Claude Lanzmann tritt Fechner als sichtbare Person aus dem Film zurück und verzichtet auch auf Kommentierung. Dennoch bildet sich mit dem Publizisten und erfahrenen Prozessbegleiter Heiner Lichtenstein doch etwas wie eine herausgehobene Erzählposition, die neben einordnenden Kommentaren auch die Gelegenheit zu einem Schlusswort erhält, in dem der WDR-Kollege dazu aufruft, als Lehre aus dem in Majdanek Geschehenen gegen Rassismen überhaupt aufzustehen und zu protestieren: „Davon wird kein Mensch wieder lebendig. Aber wir können vielleicht verhindern, dass in der Zukunft Unschuldige ermordet werden.“

Fechner hatte seinen Film sichtbar an die Nachkommen des deutschen Täterkollektivs als Zielpublikum gerichtet (interessant übrigens, dass alle der ausgewählten, meist aus dem Ausland angereisten Zeug*innen oder Beobachter*innen im Film Deutsch sprechen) und deshalb heftig mit den Verantwortlichen von ARD und NDR gestritten, die sich entschieden hatten, das epochale Werk 1984 nicht im Ersten, sondern in den Dritten Programmen auszustrahlen. Seine Kino-Uraufführung hatte der Film dann 1985 im Internationalen Forum der Berlinale.

Jetzt ist er bei Absolut Medien in einer erschwinglichen Sonderausgabe neu auf DVD erschienen. Und zeigt sich fast 80 Jahre nach dem Bau der ersten Vernichtungslager und 40 nach den Urteilen von Düsseldorf auch als vielschichtiger kulturhistorischer Rückblick in die Bundesrepublik der Ära Schmidt, der nicht nur für Jüngere erhellend sein dürfte.

„Der Prozess“. Regie: Eberhard Fechner, Deutschland 1975–84. Die DVD ist ab rund 25 Euro im Handel erhältlich.