Das virtuelle Filmfestival

Das Programm von „Cannes 2020“, diesmal bloß als Gütesiegel

Unter den Filmfestivals ist Cannes bisher das prominenteste Opfer der Coronapandemie. Ein wehrhaftes, wohlgemerkt. Bis heute will man an der Croisette das Ausbleiben der diesjährigen Vergabe von Palmen für die Wettbewerbsfilme nicht kampflos hinnehmen. Den Pressemitteilungen seit Beginn der Pandemie war zu entnehmen gewesen, wie sich das Festival windet, um das Wort „Absage“ zu vermeiden. Und am Mittwochabend wurde sogar das offizielle Programm der 73. Ausgabe vorgestellt, selbst wenn längst klar ist, dass es dieses Jahr kein Festival geben wird.

Stattdessen erhalten 56 Filme, von insgesamt 2.067 Einreichungen, das Gütesiegel „Cannes 2020“ verliehen. Beim Kinostart der Filme wird dieses dann den Vorführungen vorangestellt. Oder die Filme werden bei anderen Festivals wie den Filmfestspielen von Venedig und dem Toronto International Film Festival gezeigt und dort als Beiträge aus Cannes kenntlich gemacht. Vorausgesetzt, die Festivals müssen nicht ebenfalls ausfallen.

Die Ankündigung ist keinesfalls als Zeugnis von Trotz oder beleidigtem Stolz abzutun. Denn die Festivals haben ja nicht den bloßen Zweck, sich als Selbstbestätigungsbetriebe zu betätigen. Vielmehr dienen sie dazu, auf die Filme im Programm aufmerksam zu machen, ihnen den Kinostart zu erleichtern oder überhaupt dafür zu sorgen, dass sie, durch Besprechungen etwa, jenseits des Festivals auf die Leinwand kommen, sofern ein Film noch keinen Verleih hat.

Manches in der Auswahl hätte diese Hilfestellung womöglich gar nicht nötig, Wes Andersons jüngster Film „The French Dispatch“ mit seinem beachtlichen Starensemble etwa oder „Été 85“ von François Ozon würden auch so beim Kinostart genügend Interesse erwecken. Oskar Roehlers hierzulande jetzt Anfang Oktober startendes Biopic „Enfant terrible“ über Rainer Werner Fassbinder jedoch dürfte mit dem Gütesiegel von Cannes international durchaus mehr Chancen haben.

In der Liste fallen unter anderem noch neue Filme des früheren Dogma-Regisseurs Tomas Vinterberg („Another Round“), der Japanerin Naomi Kawase („True Mothers“) und das Regiedebüt des Schauspielers Viggo Mortensen („Falling“) auf. Zudem widmet der britische Künstler Steve McQueen seine beiden von Cannes ausgewählten Filme „Lovers Rock“ und „Mangrove“ dem mutmaßlich von Polizisten ermordeten Afroamerikaner George Floyd.

Cannes bleibt so in diesem Jahr sichtbar, doch kann das Festival nicht verhindern, was es bisher kategorisch ausgeschlossen hatte: seine Virtualisierung. Während man das aktuelle Programm nicht, wie die Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen zum Beispiel, ins Internet verlegt hat, auch wenn einzelne Beiträge aus älteren Cannes-Ausgaben derzeit auf Youtube im „globalen“ Filmfestival „We Are One“ laufen, löst sich das Festival mit seiner Gütesiegel-Lösung von seinem realen Ort, wird lediglich als Marke sichtbar, ohne das eigentliche Festivalgeschehen dazu. Das ist ein Kompromiss, der Not geschuldet. Hoffentlich eine einmalige Ange­legenheit. Tim Caspar Boehme