Mit Kultur gegen das Vergessen

20 Jahre nach den ersten Morden des rechtsterroristischen NSU-Trios rückt das interdisziplinäre Projekt „Kein Schlussstrich“ marginalisierte Perspektiven in den Fokus

Musik und Kunst auch für ihr Andenken: die zehn Opfer der NSU- Morde Foto: Polizei-Handouts/Norbert Försterling/dpa

Von Petra Schellen

Es ist vielleicht kein Zufall, dass der Ruf nach einem Schlussstrich immer dann laut wird, wenn zu wenig aufgearbeitet wurde. Wenn nicht hinreichend nach den Wurzeln für die Verbrechen gesucht wurde, weil sie tief hineinreichen: in die Gesellschaft, in Polizei, Justiz, Verfassungsschutz und Medien.

Bei den zehn rassistisch motivierten Morden des rechtsterroristischen „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) wurde das nicht ausdrücklich so formuliert; da setzte man auf das leise Vergessen. Es hat nicht funktioniert: Angehörige und Aktivisten erinnern sich sehr wohl: daran, zum Beispiel, dass der türkische Gemüsehändler Süleyman Taşköprü 2001 in Hamburg eins der ersten NSU-Opfer wurde. Der Täter erschoss ihn am helllichten Tag in seinem Laden und entkam unbehelligt. Es folgten neun weitere Morde in anderen Städten an neun Migranten sowie einer Polizistin.

Ermittler und etliche Medien sprachen flugs und ausdauernd von „Dönermorden“ im „Bandenmilieu“, verdächtigten Angehörige und ignorierten Hinweise auf rechtsradikale Motive. Zudem war bis zur Selbstenttarnung des NSU-Trios Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe im Jahr 2011 stets die Rede von „Einzeltätern“.

Später förderten etwa parlamentarische Untersuchungsausschüsse ein Bündel an Interessen, Plänen, V-Leuten und Zuständigen zutage, das letztlich niemanden konkret haftbar machte, Hunderte Unterstützer des Terrors nicht belangte. Die Versiegelung der hessischen Akten für 120 Jahre nährte den Verdacht, da sollten eher die Täter und Mitwisser geschützt werden als die Opfer.

„Die strukturelle Empathie für die Opfer und ihre Angehörigen fehlt bis heute“, sagt Jonas Zipf vom städtischen Betrieb „Jena Kultur“, ansässig in jener thüringischen Stadt, aus welcher der NSU stammte. Gemeinsam mit der Kuratorin Ayşe Gulec, den Dramaturgen Tuncay Kulaoğlu und Simon Meienreis sowie dem Soziologen Matthias Quent hat er eine Kooperation von Theatern und anderen Kulturinstitutionen gegründet, die im Oktober und November – zum 20. Jahrestag der ersten NSU-Morde – das Projekt „Kein Schlussstrich“ präsentieren: In insgesamt 14 Städten – Tatorten oder solchen, an denen Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe lebten oder zumindest unterstützt wurden – sollen Theaterstücke, Performances und Ausstellungen stattfinden.

„Das Schlimmste ist, das die Opfer – Menschen, die ohnehin eher sprachlos sind in unserer Gesellschaft – viel zu wenig gehört wurden“, sagt Kampnagel-Chefin Amelie Deuflhard, die „fast spontan zusagte“, Mit-Veranstalterin von „Kein Schlussstrich“ zu werden.

Die Zugänge sind erklärt multiperspektivisch. In Marc Sinans Oratorium „Manifest(o)“ wird ein Orchester samt Chor und Solisten an Tatorten Texte von der Antike bis in die Postmoderne vortragen, negative Energie aufnehmen und künstlerisch „reinigen“ – und so den Weg ebnen für einen neuen Humanismus. Die Aufführungen in mehreren Städten sollen digital verbunden und um eingespielte Publikumsreaktionen ergänzt werden.

In Hamburg wird Kampnagel neben einem Symposion ein interaktives Live-Hörspiel anbieten: Leyla Yenirce spürt darin Künstlerinnen und Aktivistinnen nach, die antifaschistischen Widerstand leisteten. Der Arbeitstitel: „A possible form of resilience“.

Die Ausstellung „Offener Prozess“ wiederum soll laut ihren KuratorInnen Ayşe Gulec und Fritz Lazlo Weber ostdeutsche Realität zum Ausgangspunkt nehmen, um eine Geschichte des NSU-Komplexes zu erzählen: Migrationsgeschichten, die Kontinuität rechter Gewalt, aber auch des Widerstandes dagegen. „Offener Prozess“ soll touren und in allen am Projekt beteiligten Städten marginalisierte Perspektiven zeigen.

Denn auch das Brechen von Klischees sei ein Ziel von „Kein Schlussstrich“, sagt Simon Meienreis, einer der beiden Künstlerischen LeiterInnen: „Es kommt oft die Message: Im Osten neigen die Leute eher dazu, AfD zu wählen, weil der Migrationsanteil so gering ist.“ Das stimme so nicht. „Unser Projekt wird auch Rassismuserfahrungen von People of Colour im Osten zeigen, die dort – etwa als Kinder ehemaliger VertragsarbeiterInnen – aufgewachsen sind.“ Auch gebe es ja viele antirassistisch Engagierte im Osten. Und im Westen gebe es ebenfalls Ambivalenzen: In Dortmund etwa existiere neben dem engagierten, diversen Dietrich-Keuning-Haus, Partner des „Kein Schlussstrich“-Projekts, auch eine starke Nazi-Szene.

„Es fehlt immer noch die strukturelle Empathie für die Opfer“

Jonas Zipf, Projektleiter

Davon abgesehen beleuchte das Projekt die teils widersprüchliche Aufarbeitung des NSU-Komplexes. „Hamburg etwa hat 2014 eine Straße nach Süleyman Taşköprü benannt“, sagt Meienreis. „Zugleich war es das einzige Bundesland, das keinen Untersuchungsausschuss wollte.“ Überhaupt hätten beim Gedenken verschiedene Kriterien eine Rolle gespielt: „Da ging es viel um Stadtmarketing. Andererseits darum, welche Relevanz die Bedürfnisse und Verletzungen der migrantischen Bevölkerung für Stadtpolitik und Mehrheitsgesellschaft haben.“

Das Bewusstsein für strukturellen Rassismus innerhalb der beteiligten Projekte selbst sei indes nicht bei allen gleich groß, sagt Meienreis. „Aber zum Glück wird das Thema inzwischen so oft auf die Tagesordnung gesetzt, dass wir nicht drum herumkommen.

„Das Problem des strukturellen Rassismus auf die Bühnen zu bringen, reicht heute nicht mehr“, sagt Kampnagel-Chefin Deuflhard. „Es geht konkret auch um die Frage: Was tun wir in unsern Institutionen, damit unsere MitarbeiterInnenschaft vielfältiger wird?“ Auch Kampnagel sei nicht so weit, wie es sein könnte, wäre vor 30 Jahren damit angefangen worden. „Aber wir werben in jeder Ausschreibung offensiv dafür, dass sich auch Menschen nichtdeutscher Herkunft bewerben.“ Und in den häufiger fluktuierenden Jobs – etwa Einlass und Kasse – würden Menschen unterschiedlicher Herkunft beschäftigt.

„Aber in unseren Büros sind immer noch die meisten MitarbeiterInnen deutschstämmig und weiß“, so Deuflhard weiter. „Es ist uns wichtig, dass die Mitarbeiterschaft diverser wird, aber ich kann und will jetzt auch nicht der Hälfte meiner Leute kündigen. Das sind eben sehr langsame Prozesse, die wir beschleunigen so gut es geht.“