Identitätspolitik und Wissenschaft: „Jede Generation hat ihre Agenda“

Der Soziologe Steffen Mau wirft im Gespräch einen differenzierten Blick auf die Debatte um Identitätspolitik.

Junge Menschen demonstrieren mit einem Plakat der Black-Lives-Matter-Bewegung

Demo der Black-Lives-Matter-Bewegung auf dem Gelände des ehemaligen Flughafens Tempelhof Foto: Markus Schreiber/ap

taz: Herr Mau, rund 70 Wis­sen­schaft­le­r*in­nen haben sich zum Netzwerk Wissenschaftsfreiheit zusammengeschlossen. Sie sehen die verfassungsrechtlich verbürgte Freiheit der Forschung und Lehre durch identitäts­politische Gruppen zunehmend unter moralischen und politischen Vorbehalt gestellt und ihr wissenschaftsfremde Grenzen gesetzt. Wie stehen Sie dazu?

Steffen Mau: Ich erlebe es nicht so. Es gibt sicher Randbereiche, wo es intensivierte Konflikte über das Sagbare gibt und Überempfindlichkeiten Platz ­greifen. Aber eine pauschale Bedrängnis für das Wissenschaftssystem sehe ich nicht. Ich würde sagen, das sind Auseinandersetzungen, die wir immer wieder erlebt haben: etwa im Kontext der Reform der Universität oder der 68er-Bewegung. Aber dass der gesamte Wissenschaftsbetrieb davon bedroht sei, das kann ich einfach nicht beobachten. Viel heftiger sind Angriffe von außerhalb des Wissenschaftssystems, wenn man etwa an die Migrationsforschung oder die Genderstudies denkt.

Die oft kritisierte Cancel Culture existiert also nicht?

Den Begriff würde ich mir nicht zu eigen machen, aber es gibt natürlich schon Diskursverschiebungen, wo man genau hinschauen muss, ob sie einen emanzipatorischen Kern tragen oder zu entleerten Gesinnungsgefechten werden, die sich gegen Personen und nicht gegen Argumente richten. Wenn man jetzt die Frage anspricht, wer legitimerweise für wen und worüber sprechen darf, dann gibt es gut begründete Vorstellungen einer gleichberechtigten Kommunikation, wo jeder, soweit auf dem Boden unserer Verfassung stehend, erst einmal eine Stimme hat. Und das sind natürlich Prinzipien, an denen wir festhalten sollten – sie machen Demokratie und Wissenschaft aus, wobei es bei Letzterem um wissenschaftliche Geltungskriterien gehen muss.

Professor für Makro­soziologie an der HU Berlin. Seine Themen: Ungleichheit, Transnationalisierung, europäische Integration, Migration. Er schrieb den Bestseller „Lütten Klein – Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft“.

Nichtsdestotrotz gibt es auch Gruppen, die sagen, wir wollen erst einmal für uns sprechen, wir wollen nicht in einen gleichberechtigten Diskurs eintreten, weil dieser auf asymmetrischen Machtstrukturen basiert, was wiederum eine legitime Kritik sein kann. Ich halte das für ein Übergangsphänomen einer Gesellschaft mit pluralen Anerkennungsansprüchen. Das ist etwas, mit dem wir erst einmal leben müssen.

Wie würden Sie diesen Übergang als empirischer Sozialwissenschaftler fassen?

Es gibt eine erhöhte Sensibilisierung für Themen, die wir bislang ausgeblendet oder sogar tabuisiert haben. Dazu gehört eine größere Sichtbarkeit von marginalisierten Gruppen, die berechtigte Anliegen in die Mitte der Gesellschaft hineintragen, und ein Bewusstsein darüber, dass Diversität nicht etwas ist, was sich aus dem politischen Raum heraushalten lässt, weil wir sagen, wir sind doch alle gleich oder alle haben die gleichen grundgesetzlichen Rechte. Man muss sehen, dass für die Frage der Teilhabe mehr als Rechtsgleichheit notwendig ist. Es gibt über das Formale hinausreichende Anerkennungsforderungen, die aus Erfahrungen der Randstellung und Missachtung herrühren und für die wir noch keine hinreichenden politischen Modi der Bearbeitung gefunden haben. Das sind Entwicklungen, die jetzt in Gang gesetzt werden.

Betrifft das auch die Anliegen der Ostdeutschen?

Ja. Es ist eine Mobilisierung von Gruppen, die bisher mehr oder weniger stillschweigend ihre Position eingenommen haben und jetzt manchmal sehr vehement und zuweilen moralisch rigoros versuchen, ihren Platz zu erkämpfen oder Sichtbarkeit zu erlangen. Auf diese Auseinandersetzung müssen wir uns einlassen, daran führt kein Weg vorbei. Wir als Gesellschaft müssen aushandeln, wie wir diesen Anliegen gerecht werden können, ohne wichtige institutionelle Errungenschaften zu gefährden. Das ist allein mit diskursiver Eskalation nicht zu machen, man braucht auch Kompromissformeln und neue Formen der Wechselseitigkeit.

Wenn Identitätspolitik eine Form der politischen Mobilisierung von Minderheiten ist, was bedeutet für Sie Identität?

Identitäten werden erst hergestellt – sie sind kein Apriori –, und zwar nicht nur durch die Gruppen selbst, sondern auch als Zuschreibung. Identität entsteht in der Auseinandersetzung mit der Gesellschaft und muss daher als Prozess begriffen werden. Ebenso ist es falsch zu glauben, dass mit irgendeiner Identität eine bestimmte politische Bewusstseinsbildung einhergeht. Da gibt es keinen Automatismus.

Konkret?

Bezogen auf die Ostdeutschen zum Beispiel ein essenzialistisches Identitätsverständnis: Das wären etwa die Ostdeutschen als Mitglieder eines Stammes, einer Abstammungsgemeinschaft oder eines durch Kultur und Sitten zusammengehaltenen Kollektivs. Sie hätten Eigenschaften, die allen eigen und letztlich unverrückbar sind. Das ist aber mitnichten so. Ostdeutscher wird man erst in einem Prozess der Auseinandersetzung mit sozialen Erfahrungen und durch Zuschreibungen von außen oder indem man sich kollektiv über bestimmte Identitäten verständigt. Das ist kein stabiler Kern, sondern wird gesellschaftlich gemacht. Identität ist etwas unglaublich Komplexes, etwas, das ständig im Fluss ist. Identitäten können sich deshalb auch transformieren. Das trifft ja für die ostdeutsche Identität ganz eindrücklich zu. Zwischen 1989 und heute unterscheidet sich das „Ostdeutsche“ enorm. Es unterscheidet sich nach Generationen, Gruppen und Regionen, es kann als reaktionärer Osttrotz wie als emanzipatorischer Oststolz auftreten.

Die jungen Leute kommen mit anderen Themen?

Das ist so, jede Generation hat ihre Agenda, ihre zeitgeschichtlichen Bezugsräume, ihre Bewusstseinsformen. Junge Menschen sind oft sehr sicher in ihren Meinungen, sehen sich auf der Höhe der Zeit, Ältere denken eher zyklisch und erfahrungsgeprägt, zudem gibt es natürlich auch einen nicht zu leugnenden Alterskonservatismus. Wenn es schnellen und durchgreifenden sozialen Wandel gibt, prallt das stärker aufeinander, als wenn alles geruhsam dahinfließt.

Und ein Wolfgang Thierse wird heute nicht mehr auf den Gender-Zug der jungen Generation aufspringen. Ist das schlimm?

Nein, das muss man auch etwas gelassener sehen. Die Lebenswelten sind heute andere; das, was man für wichtig hält, auch. Wolfgang Thierses großes Lebensthema ist der auch persönlich riskante Kampf gegen eine Diktatur und das Ankommen in einer Demokratie, er wird Transgenderfragen kaum dieselbe Aufmerksamkeit schenken und sie ganz oben auf die Agenda setzen, selbst wenn sie für andere aufgrund ihrer Erfahrung genau dort hingehören. Unterschiedliche Erfahrungshorizonte, diverse Betroffenheiten, jeweils andere Herkünfte – das muss man aushalten.

Es gibt keine pauschal zu verstehende identitätspolitische Vorrangigkeit, es gibt keinen letzten Wahrheitsanspruch, den man aus der eigenen Befindlichkeit oder Betroffenheit ableiten kann. Es gibt nur die Verpflichtung der Mehrheitsgesellschaft, die eigene Perspektive zu dezentrieren und diesen neuen Diskursen und Stimmen Raum zu verschaffen. Alles andere muss weiter miteinander diskutiert und verhandelt werden.

Aber oft tritt Identitätspolitik als einzige gültige Wahrheit auf.

Ich wundere mich zuweilen auch über manche Selbstgewissheit und das Kippen in unverstellten Partikularismus. Das betrifft aber nicht die Breite der Anerkennungsbestrebungen, sondern allenfalls bis zur Karikatur verfremdete Überspitzungen. Das sollte man nicht verwechseln. Aber der Perspektivwechsel ist immer eine gute Strategie der eigenen Erdung und Welterkundung. Als ich in meiner Lehrzeit drei Jahre im Schiffsbau gearbeitet habe, da musste ich mich mit anderen Lebenswelten auseinandersetzen und lernen, andere Perspektiven, die ich mir nie zu eigen machen würde, nicht von vornherein moralisch abzuwerten. Sie sind oft durch sehr andere Existenzformen entstanden.

Und warum scheint das für viele Verfechter der Identitätspolitik so schwierig zu sein?

Das liegt auch an vielen Biografien der jungen Verfechter von Identitätspolitik. Sie gehen durch die Bildungsinstitutionen und bewegen sich in gleichgesinnten Milieus, das Leben außerhalb ist oft wenig vertraut. Der Blick reicht nicht weit hinaus über die Diskurs­kontexte, wie sie an den Bildungsinstitutionen und in den Medien stattfinden. Damit nehmen sie sich Lernmöglichkeiten, die man durch Irritation und Befremdung des Selbstverständlichen gewinnt. Für Menschen aus migrantischen Familien oder Arbeiterkinder an Universitäten liegt die Sache naturgemäß anders, da gibt es biografisch schon immer den Rückverweis auf andere Erfahrungshorizonte.

Oft wird identitätspolitischen Grup­pen vorgeworfen, sie verträten nur eigene Interesse und spalteten damit die Gesellschaft …

Das gilt mit historischem Blick für alle Bewegungen, ob es die Arbeiterbewegung, die Bürgerrechtsbewegung oder den Feminismus betrifft. Alle haben erst einmal für sich selbst gesprochen und eigene Interessen in den politischen Raum hineingebracht. Ähnlich ist es mit der Identitätspolitik. Sie erinnert die Gesellschaft daran, dass es normative Gleichheitsansprüche gibt, die aber de facto nicht eingelöst sind. Ob das zu partikularistisch ist, das muss man im Einzelfall anschauen, ich vermute aber, dass dieser Vorwurf in dieser Pauschalität nicht trägt.

Sehen Sie die Spaltung in Kulturlinke und Soziallinke?

Dazu haben wir eigene Studien gemacht, die zeigen, dass sich die meisten Leute nicht so eindeutig in eine der Gruppen einordnen lassen, sondern unterschiedliche Anliegen gleichzeitig in den öffentlichen Raum hineinbringen können. Wenn man das weiß, dann ist diese doch sehr aufgeregte Diskussion über Spaltung etwas überzogen. So einfach und so polarisiert ist die Gesellschaft nicht.

Wird der Konflikt mit identitätspolitischen Ansätzen in den Medien hochgeschrieben?

Dass es so hoch schießt, hat auch etwas mit Medienaufmerksamkeiten zu tun. Unter anderen Bedingungen und zu anderen Zeiten wäre vielleicht so ein Thierse-Aufsatz einfach unter den Tisch gefallen. An den meisten Leuten geht diese Diskussion vorbei.

An den „Normalen“?

Es gibt so Triggerpunkte der Kon­tro­verse, die betreffen aber nicht die generelle Einstellung der Gesellschaft zu Gleichstellung. Wenn ich jetzt sage: „Es darf kein indisches Essen in der Mensa geben, das ist kulturelle Aneignung“, oder wenn Rastazöpfe in Paderborn flechten als Problem gerahmt wird, dann ist das für viele überzogen und kann zum Aufreger werden.

Aber wenn es darum geht, dass Transpersonen gleiche Anerkennung bekommen, dass homosexuelle Paare Kinder adoptieren können, dann ist unsere Gesellschaft relativ liberalisiert und weiter und weniger gespalten, als das der mediale und politische Diskurs suggeriert. Wir haben auch dazu eigene Untersuchungen gemacht, und da sehen wir, dass in der Breite die Bevölkerung anerkennungsbereit ist. Und dass sie sich vor allem an den identitätspolitischen Spitzen und Übertreibungen stößt, nicht an wichtigen emanzipatorischen Anliegen.

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