Blutregen und Kinderreime

Ein Sprachspieler lässt Entgrenzungserfahrungen aufflackern: Arne Rautenberg schreibt in seinem Band „betrunkene wälder“ neue, postapokalyptische Gedichte

Von Michael Braun

Vor genau 150 Jahren begann die poetische Moderne mit der Erfindung eines instabilen Wasserfahrzeugs: Arthur Rimbaud schickte 1871 sein „trunkenes Schiff“, das „bateau ivre“, auf eine fantastische Reise. Zunächst treibt dieses Schiff nur langsam einen Fluss hinunter, dann löst sich alles Feste auf und in Träumen und Delirien nimmt es schließlich Kurs auf einen vogellosen Himmel, hin zu den „Sternenarchipelen“.

150 Jahre später können wir wesentlich erdnäher einen anderen Auflösungsvorgang beobachten: die Entstehung der „betrunkenen Wälder“. In der Arktis beginnt der Permafrostboden zu schmelzen, auf dem aufgeweichten Boden finden die Bäume keinen Halt mehr, und so bilden sich chaotisch verzerrte, gesplitterte und bizarr nach allen Richtungen sich spreizende Bäume auf einer Rutschmasse, die einst der feste Boden war.

Der Dichter Arne Rautenberg, der wegen seiner dadaistischen Neigungen gerne auch „Arne Schwittersberg“ genannt wird, ist der Chronist und die poetische Stimme der „betrunkenen wälder“. Und auch in seiner Bildwelt sind – wie bei Rimbaud – der innere Rauschzustand, der Traum und die halluzinatorische Fantasie entscheidende Antriebskräfte bei der poetischen Vermessung der Welt.

„Und manchmal sah mein Auge, was Menschenauge träumt“: So lautet eine Verszeile bei Rimbaud in der Übersetzung von Paul Celan. Und auch bei dem Wortkünstler Rautenberg, der meist recht voreilig auf die Rolle des heiteren Sprachspielers reduziert wird, spricht in den neuen Gedichten diesmal ein von Untergangs- und Auflösungserfahrungen affiziertes Ich – ein Ich, das sehen kann, was das „Menschenauge träumt“.

Und was sieht und träumt das Menschenauge in Arne Rautenbergs „betrunkenen Wäldern“? Es sieht den Blutregen, der vom Himmel fällt im Gefolge des Saharastaubs: „im himmel zieht von süden her / saharastaub mit ein und blutregen fällt über / uns hernieder mit schlanken silhouetten“. Ja, „aus allen himmeln“ stürzt es hier hernieder in die Menschenwelt, und es bündeln sich die Menetekel – wie in jenem Gedicht Arne Rautenbergs, in dem es wie in der apokalyptischen Szene des hypnotischen Spielfilms „Magnolia“ Frösche vom Himmel regnet.

Und schließlich sind es die „rußgefärbten vögel“ mit schwarz eingefärbtem Gefieder, die zu Wappentieren einer Dystopie werden: „wie eine ohrenlerche im gleitflug vor der depression / die weiße unterseite grau ja fast schwarz eingefärbt / man wird die rußmenge später im gefieder messen indem / man das licht fotografiert das von den federn reflektiert“.

In den „betrunkenen wäldern“ von Arne Rautenberg finden wir Blicke auf eine Zeit der Verheerung, auf eine postapokalyptische Zeit „nach dem fünften sechsten Weltkrieg“, wie es im „ausblick für rußgefärbte vögel“ heißt. Die Verse, die er schreibt, sind selbst erfasst von diesen Auflösungsprozessen der Naturgeschichte. Es sind zum Teil Verse, die in Form visueller Poeme ihren Gegenständen einen bizarren Umriss geben. Oder auch erzählende Verse, die dann in den Sog von Entgrenzungsfantasien geraten.

Die Auseinandersetzung mit metaphysischen Stoffen und den letzten Dingen kann sich dabei auch des Kinderreims bedienen. Zum Beispiel im Gedicht mit dem lapidaren Titel „nö“: „herrgott ich berichte / eine lustige geschichte / eines tages wirklich wahr / war ich überhaupt nicht da / alle fragten sich wo ist / dieser daueroptimist / ich war einfach / weg vom fenster“.

Es lohnt sich, diesen Dichter ans Fenster zurückzuholen und mit seinem „Menschenauge“ unseren gefährdeten Planeten neu anzuschauen.

Arne Rautenberg: „betrunkene wälder“. Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2021, 112 Seiten, 20 Euro