Ohne Pomp und Circumstance

Das Musikfest Berlin ist zurück. Es eröffnete seine diesjährige Ausgabe mit einer Uraufführung: „A House of Call“ von Heiner Goebbels ist ein großes Erlebnis für großes Orchester, das viel Spaß bereitet

Uraufführung von Heiner Goebbels „A House of Call“, rechts der Komponist und der Dirigent Vimbayi Kaziboni Foto: Astrid Ackermann

Von Katharina Granzin

Oops! Hab ich was verpasst? Noch brummt der in Coronaordnung besetzte große Saal der Philharmonie vor Publikumsgemurmel, da beginnen sich die vermeintlich chaotischen Instrumentenstimmgeräusche aus dem Orchester, die man eben noch als Hintergrundtapete wahrgenommen hatte, eindeutig zu einem Klangbild höherer Ordnung zu formen. Ist es etwa schon losgegangen? Hat der Dirigent sich einfach so hereingeschlichen?

Tatsächlich, da steht Vimbayi Kaziboni an seinem Pult, das nicht mittig, sondern seitlich auf dem Podium aufgestellt wurde, und geht bereits konzentriert seiner Aufgabe nach, während sein Orchester noch dabei ist, sich aufzubauen. Noch minutenlang trudeln nacheinander Menschen mit Streichinstrumenten herein und begeben sich ohne Eile auf ihre Plätze. So lässig, ganz ohne Pomp and Circumstance, beginnt das erste „echte“ Musikfest nach Pandemiebeginn.

Im letzten Jahr fand das Festival zwar statt, aber nur in reduzierter Form mit ausschließlich solistisch oder kammermusikalisch besetzten Formaten. Igor Levit eröffnete es ganz allein am Flügel. Dieses Jahr aber sind sie wieder dabei, die großen Klangkörper: darunter die Berliner Philharmoniker, das London Symphony Orchestra, das Concergebouworkest aus Amsterdam, und auch wieder zahlreiche große Chöre.

Zum Eröffnungsabend gibt es eine Uraufführung mit dem groß besetzten Ensemble Modern Orchestra. „A House of Call“ nennt der Komponist Heiner Goebbels in Anlehnung an ein Zitat aus „Finnegan’s Wake“ sein erstes Orchesterwerk nach zwanzig Jahren. Er erklärt den Titel im Musikfest-Journal so: „Noch im 19. Jahrhundert stand es für einen öffentlichen Raum, in dem Mitglieder bestimmter Berufsgruppen neue Aufträge bekommen konnten. Auch das Konzert sollte ein öffentlicher Raum sein und nicht der persönliche Ausdruck des Komponisten.“ Das Call-and-Response-Prinzip klingt im Titel an, bei dem eine Singstimme eine Phrase vorgibt, die von einer Gruppe beantwortet wird. Als eine Art Responsorium, wie dieses Muster im kirchlichen Kontext genannt wird, will Goebbels Teile seines Werks denn auch angelegt haben.

Doch all das muss man weder unbedingt wissen noch den 130-seitigen Materialband gelesen haben, der beim Konzert erworben werden kann und die umfassende Recherche belegt, die der Komposition vorausgegangen ist. Neben allem intellektuellem Anspruch ist „A House of Call“ ein dramaturgisch überaus wirkungsvoll inszenierter Musikabend, dessen Absichten zu weiten Teilen offen daliegen. Der „Call“ in diesem Haus des Rufens besteht in Tonaufnahmen menschlicher Stimmen, die jeweils die Basis eines Stückes bilden und mit denen das Orchester interagiert: nicht lediglich auf sie antwortet, sondern sie verstärkt, ergänzt, kommentiert, interpretiert, überhöht.

Die Stimme von Heiner Müller eröffnet den Abend mit einem Auszug aus „Traktor“, einem Text über den Stein des Sisyphos und dessen Verhältnis zur menschlichen Arbeitskraft; und das Orchester verdichtet den Text weiter zu einer musikalischen Rhythmusmeditation. Darauf folgt – eine Ausnahme im Ausgangsmaterial – recht passend eine ironisch-bruitistische Weiterschreibung der Tonaufnahme von einer Berliner Baustelle, die den Komponisten neben seinem neu bezogenen Tonstudio am ungestörten Arbeiten hinderte.

Ein Großteil der Tonaufnahmen stammt von alten Wachswalzen

Ein Großteil der verwendeten Tonaufnahmen stammt aber von alten Wachswalzen, die in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts von Ethnologen angefertigt wurden: manche in Afrika, andere in Kriegsgefangenenlagern des Ersten Weltkriegs. Georgische Bauern besingen subversiv ihre Freiheit, afrikanische Schulkinder singen ein deutsches Kirchenlied. Gleichsam tastend nähert sich Goebbels’ Musik diesen oft unter kolonialistischen Herrschaftsbedingungenen erzwungenen Aufnahmen, nimmt vorsichtig ihre Motivik auf, beginnt eine zurückhaltende Begleitung, um sie schließlich auf eigene Weise fortzuschreiben und etwa aus den einsamen Melismen eines Sängers eine großformatige Bigband-Jazzphantasie erwachsen zu lassen.

Die Instrumentierung ist ungemein abwechslungsreich, das Orchester groß besetzt und mit einem riesigen Apparat an differenziert eingesetztem Schlagwerk versehen. Ein Cymbalon und ein Akkordeon treten solistisch mit einer Geige ins Gespräch und bringen ungewöhnliche Klangfarben ein. Expressiv auftrumpfende Bläser dürfen die Grenzen ihrer Instrumente ausloten, und die Harfe beweist ihre Eignung als Rhythmusinstrument. Alle Instrumente sind elektronisch verstärkt, was klangliche Gleichberechtigung herstellt. Den MusikerInnen ist anzusehen, dass sie Spaß an ihrer Arbeit haben, und wer beim Zuhören keinen Spaß hatte, dem ist nicht zu helfen.

Das Musikfest geht noch bis zum 20. September. Ein Schwerpunkt widmet sich dem Spätwerk Igor Strawinskys. Viel zeitgenössische Musik wird erklingen. Und: bevor die vierte Coronawelle kommt, kann jetzt nicht zuletzt jede Menge hochkarätige Chormusik miterlebt werden. Live. Und mit FFP2-Maske.