Eine Frau von 60 Jahren

Die Schriftstellerin Deborah Levy denkt in dem Buch „Ein eigenes Haus“ klug über die Herausforderungen eines neuen Lebensabschnitts nach

Deborah Levy: „Ein eigenes Haus“. Aus dem Eng­lischen von Barbara Schaden. Hoffmann und Campe, Ham­burg 2021. 224 Sei­ten, 24 Euro

Von Carola Ebeling

Wie könnte er aussehen, ein „knapp sechzigjährige(r) weibliche(r) Charakter“, der nicht Stereotypen sogenannter älterer Frauen entspricht? Das beschäftigt die 1959 in Südafrika geborene britische Schriftstellerin, Theater- und Drehbuchautorin Deborah Levy. Wiederkehrend taucht diese Frage in „Ein eigenes Haus“ auf, dem letzten Teil ihrer auf eine Trilogie angelegten „living autobiography“. Es ist die Idee eines autobiografischen Schreibens, das nicht in einem großen Rückblick auf das Leben ansetzt, sondern entsteht, während das Leben stattfindet.

Für die zwei ersten Bände, „Was ich nicht wissen will“ (2013) und „Was das Leben kostet“ (2018), wurde die Autorin 2020 mit dem Prix Fémina étranger ausgezeichnet. Ging es im vorigen Buch viel um den Bruch, den die Trennung von ihrem langjährigen Ehemann bedeutete, sieht sich Levy nun, kurz vor ihrem 60. Geburtstag, vor andere Herausforderungen gestellt. Auch die zweite Tochter zieht jetzt aus. Will sie, künftig auf neue Weise allein, in dem heruntergekommenen Wohnblock im Londoner Norden bleiben, in den sie nach der Scheidung gezogen ist?

Die Sehnsucht nach einem eigenen Haus, von dem sie weiß, dass sie es sich nie wird leisten können, ist ein roter Faden des Buches, doch steht die „Im(aginär)mobilie“ für viel mehr als ein konkretes Haus.

„(Ich) hatte keine Ahnung, wie ich einen knapp sechzigjährigen weiblichen Charakter darstellen sollte“, heißt es selbstironisch in einer sie leicht überfordernden Alltagssituation. Die Formulierung verrät etwas über Levys autobiografisches Schrei­ben, in dem das „Ich“ der Autorin und die Erzählstimme sich zwar sehr ähnlich, jedoch nicht vollkommen identisch sind.

Man darf der Autorin in ihren assoziativen Gedankengängen, ihren szenischen Verdichtungen von Begegnungen, ihren darin aufscheinenden auch gesellschaftspolitischen Haltungen – insbesondere bezüglich der Situation von Schriftstellerinnen – unbedingt trauen. Was sie über ihr Schreiben, ihre Ehe, über Wünsche, Scheitern und Erfolge erzählt – es sind ihre Erfahrungen. Zugleich weist Levy aber über das nur Individuelle hinaus.

Das geschieht zum einen in der Spiegelung mit anderen Frauen; Begegnungen mit Freundinnen verschiedenen Alters (und ihrem besten Freund) gliedern den Text. Aber auch in der Aufrufung vieler Autorinnen, deren Zitate die geschilderte Situation in der Schreibgegenwart erhellen, den Gedankenraum weiten. Zudem führt sie Diskussionen mit Filmleuten über die akzeptierte Ausgestaltung älterer weiblicher Filmfiguren: „Einnehmend“ sollen sie sein. Die engen Grenzen offenbaren gesellschaftliche Vorstellungen, die Levy wiederum mit sich selbst abgleicht.

Es ist ein Vergnügen, Levy unter anderem nach Paris und Mumbai zu folgen, wohin sie Schreibstipendien führen. Der Text ist von einer fließenden Leichtigkeit getragen, dabei aber ganz durchkomponiert: Situationen, Themen fügen sich assoziativ aneinander, scheinen abgeschlossen, werden jedoch in kleineren und großen Kreisbewegungen erneut verknüpft und nochmals neu beleuchtet.

Ein Verfahren, das abgewandelt auch ihre Romane auszeichnet. Und dort wie hier sind in Levys schönem Witz das Schwere und Traurige eingelassen.

Das eigene Haus – Virginia Woolfs Zimmer für sich allein lässt grüßen – steht auch für das, was im eigenen Leben als wertvoll zu erachten ist. Was sind, in diesem Sinne, die „Besitztümer“ von Frauen? Das selbst zu bestimmen, ist die große, nicht endende Herausforderung.

Die Autorin Deborah Levy versteht es auf inspirierende und kluge Weise, Ermutigung und Unsicherheit nebeneinander stehen zu lassen. Stärke und Fragilität. Immer beides.