Der Welt lautlos Namen zuflüstern
Dmitri Strozew ist als Dichter und Oppositioneller eine bekannte öffentliche Figur in Belarus. Jetzt schreibt er Gedichte über den Ukrainekrieg, die wir hier erstmals veröffentlichen. Im Gespräch erklärt er auch, was der Krieg für Belarus bedeutet
Der Großteil der Belarussen empfindet die Situation wie eine russische Okkupation
Von Jens Uthoff
Der Sound von Dmitri Strozew bleibt hängen. Jedes Wort hat Gewicht, jedes Wort lässt auch Raum für das, was nicht gesagt und nicht geschrieben werden kann. Die Gedichte des belarussischen Lyrikers setzen sich oft nur aus wenigen Sätzen zusammen, die Verse häufig nur aus einzelnen, solitär dastehenden Wörtern.
In „Belarussische Meditation“ (2021) schrieb der Minsker Schriftsteller etwa über den Zustand des Ausharrens und des Aushaltens der zunehmend verzweifelten Zivilgesellschaft in Belarus. Das klang so: „miteinander sprechen / eine gemeinsame sprache finden / eine neue / mit vertrauen und hoffnung / mit liebe / aus voller brust / atmen / aus einer brust / das ganze land / einatmen ausatmen / einatmen / ausatmen / die zeit arbeitet für uns / geduld“. Zu der „geduld“ später noch mehr.
In Belarus ist Dmitri Strozew als Dichter und auch als Oppositioneller eine bekannte öffentliche Figur. Über Jahrzehnte hat er die Verhältnisse unter dem Lukaschenko-Regime mittels Lyrik kommentiert, 16 Gedichtbände hat der 59-Jährige in Belarus publiziert (auf Deutsch liegt allerdings nur eine Auswahl vor: „staub tanzend“, übersetzt von Andreas Weihe, hochroth Verlag, Berlin 2020.). Zudem hat er Lyrikbände herausgegeben, veranstaltete Lyrikfestivals. Als er im Oktober 2020 an den Protesten in Minsk teilnahm, wurde Strozew verhaftet, 13 Tage saß er im Gefängnis. Aus der europäischen Literaturszene erhielt er sehr viel Unterstützung, über 60 Intellektuelle setzten sich in einem offenen Brief für ihn ein. Heute schreibt er Gedichte über den Krieg in der Ukraine. Einige von ihnen veröffentlichen wir hier erstmals.
Strozew hält sich seit Anfang März in Stockholm auf und spricht von dort aus via Videochat mit der taz am wochenende. Er hat graues, krauses Haar, einen buschigen Bart, trägt einen schwarzen Kapuzenpulli. Aufgrund der anhaltenden Repressionen veröffentliche er derzeit nur im Ausland, berichtet er: „In Belarus kann ich meine Werke schon lange nicht mehr veröffentlichen. Man kann sie nicht in den Buchläden kaufen, auch Bibliotheken dürfen meine Bücher nicht besitzen.“ Für Strozew steht nun erst mal eine Lesereise durch Polen, Estland, Tschechien und Norwegen auf dem Programm – ob er überhaupt nach Belarus zurückkehrt, hänge auch davon ab, wie sich die Ereignisse in der Ukraine entwickelten. Ihm geht es wie vielen seiner Landsleute im Exil: „Seit 2020 leben wir, die Belarussen, praktisch von heute auf morgen, ohne langfristige Planung.“
Der russische Angriffskrieg war für ihn als belarussischer Bürger, aber auch als Lyriker eine weitere tiefe Zäsur nach der gescheiterten Revolution 2020. „Ich denke, die Unterdrückung der Protestbewegung in Belarus war Teil der Vorbereitung des geplanten Überfalls auf die Ukraine“, sagt er. „Die Zivilgesellschaft in Belarus musste zerschlagen werden, um Belarus als Aufmarschgebiet für den Überfall auf die Ukraine einrichten zu können.“ Der Großteil der Belarussen empfinde die gegenwärtige Situation in ihrem Land wie eine Okkupation durch Russland.
Von der ukrainischen Zivilgesellschaft ist die Solidarität der Belarussen dabei gerade zu Beginn der russischen Invasion in Frage gestellt worden. Inzwischen, glaubt Strozew, hätten sie ihr Bild von den Belarussen korrigiert. „Es gibt zahllose Beispiele für die Unterstützung der Ukraine durch die belarussische Zivilgesellschaft. Viele Belarussen arbeiten als Volontäre und Unterstützer der Ukraine, einige kämpfen mit der Waffe in der Hand aufseiten der Ukraine. Und der Stab von Swetlana Tichanowskaja pflegt gute Kontakte zur Regierung von Wolodimir Selenski.“
Seine Ukraine-Gedichte sind einmal mehr da am spannendsten, wo sie Leerstellen lassen, wo sie vom Ungreifbaren, Unfassbaren, Unsagbaren des Terrors erzählen. Sagen die grausamen Bilder nicht alles?, scheint er sich in einem seiner neuesten Gedichte vom 9. 4. 22 zu fragen, um anschließend über die Rolle der Literatur zu sinnieren: „was bleibt dem dichter / als der welt/ lautlos namen zuzuflüstern / Butscha / Irpin/ Borodjanka / Kramatorsk / Ukraine“.
Die pointierten, minimalistischen Gedichte, denen der Schrecken eingeschrieben ist, hinterlassen auch in dem 2020 veröffentlichten Band „staub tanzend“ einen starken Eindruck, auch im Deutschen funktionieren sie sehr gut. In „Kriegstourist“ erzählt Strozew, wie ein Soldat in den Georgienkrieg 2008 zieht; von den Ortsangaben abgesehen trifft das Gedicht auch die jetzige Situation punktgenau. Man würde sich wünschen, dass bald noch mehr seiner Gedichte auf Deutsch erscheinen.
Wie die Kulturszene in Belarus wieder aufgebaut werden kann, das weiß im Moment niemand, auch Strozew nicht. „Praktisch alle zivilgesellschaftlichen Institutionen und alle unabhängigen Medien sind liquidiert worden, und der Terror, die Gewalt gegenüber der Bevölkerung geht weiter“, sagt Strozew. Auch der belarussische PEN, dessen Mitglied er ist, wurde vergangenen Sommer offiziell verboten, der Vorsitzende Barys Piatrovich unter Hausarrest gestellt. Strozew erzählt, er habe für sich die Entscheidung getroffen, sich nicht selbst zu zensieren, obwohl ihm bei einer möglichen Rückkehr nach Belarus natürlich auch jederzeit die Verhaftung droht.
Als er „Belarussische Meditation“ schrieb, schwang noch ein Restoptimismus mit. Doch wie sieht es jetzt aus, da ein belarussischer Frühling in weite Ferne gerückt ist? Auf diese Frage antwortet Strozew mit einer Anekdote: Mit Studenten der Göteborger Universität habe er gerade noch einmal über das Gedicht „Belarussische Meditation“ diskutiert. „Die Studenten haben das Wort ‚geduld‘ im Sinne eines Sichabfindens verstanden“, sagt er, „für mich aber bedeutet es Trotz, Hartnäckigkeit. Das Regime hat der kulturellen Gemeinschaft schmerzhafte Wunden zugefügt. Viele meiner Kollegen sind hinter Gittern, andere im Exil. Nun haben wir eine neue Bewährungsprobe zu bestehen: Unsere Standhaftigkeit unter neuen, schwierigsten Bedingungen zu bewahren.“ Wenn man Dmitri Strozew zuhört, zweifelt man keine Sekunde daran, dass dies gelingen wird.
Mitarbeit: Andreas Weihe (Dolmetscher beim Interview)