Eine verschwiegene Vereinbarung in Madrid

Die Türkei gibt ihren Widerstand gegen die Nato-Norderweiterung auf. Doch wer den Preis dafür zahlen muss, ist unklar

Gute Miene: Der türkische Präsident Erdoğan, US-Präsident Biden, Nato-Generalsekretär Stoltenberg und der britische Premier Johnson am Mittwoch in Madrid Foto: Gabriel Bouys/afp

Aus Stockholm Reinhard Wolff

Es war klar, dass die Nato die türkische Blockade des Beitritts Schwedens und Finnlands möglichst noch vor dem offiziellen Beginn des Nato-Gipfels in Madrid vom Tisch bekommen wollte. Deshalb waren für Dienstag Gespräche zwischen den drei Ländern vereinbart. Was dann aber am Dienstagabend in Madrid passierte, nennt die schwedische Tageszeitung Expressen eine „bizarre“ Veranstaltung.

Mit mehrstündiger Verspätung traten da die Staatschefs der Türkei und Finnlands, Recep Tayyip Erdoğan und Sauli Niinistö, zusammen mit Schwedens Ministerpräsidentin Magdalena Andersson, Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg und den AußenministerInnen der Türkei, Finnlands und Schwedens vor die Presse. Und nachdem Letztere ein Dokument unterzeichnet hatten, verließen alle sieben PolitikerInnen ohne jegliche Erklärung und ohne Fragen zu beantworten, wieder den Raum.

Auch wenn beim Kameratermin alle tapfer lächelten und Stoltenberg dem türkischen Präsidenten jovial auf die Schulter klopfte: So richtig glücklich schien niemand mit dem Ergebnis zu sein. Am zufriedensten zeigte sich der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu. Der Einspruch, den die Türkei vor gut einem Monat gegen die Aufnahme Finnlands und Schwedens in die Nato eingelegt hatte, musste eben wieder verschwinden. Irgendwie. Von dem „dabei üblichen Geben und Nehmen“ sprach später die schwedische Regierungschefin Andersson.

„Wir haben ein Abkommen“, erklärte Stoltenberg eine halbe Stunde später, ohne aber zu dessen Inhalt zunächst mehr sagen zu wollen, als dass es sich um „ein trilaterales Memorandum“ handele, „um die legitimen Sicherheitsbedenken der Türkei auszuräumen und den Weg für die Nato-Mitgliedschaft Finnlands und Schwedens zu ebnen“. Die beiden Staaten erhielten am Mittwoch offiziell einen Status als Kandidatenländer, womit nun der Ratifizierungsprozess in allen bisherigen Mitgliedsländern beginnt.

Das Schauspiel wiederholte sich, als Finnlands Sauli Niinis­tö und Schwedens Magdalena Andersson gesondert vor die Presse traten. Ja, man habe eine Einigung, denn für alle drei Staaten genieße der Kampf gegen den Terrorismus „in allen seinen Formen und in jeder Gestalt“ (Andersson) Priorität. Vor allem bei der Frage möglicher Waffenlieferungen sei man der Türkei „ein wenig“ entgegengekommen, sagte Andersson.

Das Memorandum, das nach einiger Zeit auf der Website der Nato veröffentlicht wurde, ist allgemein gehalten. Die drei Länder versichern darin gegenseitige Hilfe bei der Terrorismusbekämpfung. Man habe „bekommen, was man wollte“, hieß es in einer Erklärung der türkischen Präsidialkanzlei.

Schweden und Finnland hätten die Auslieferung Terrorverdächtiger versprochen und würden nach einem Nato-Beitritt ihre Waffenexportverbote aufheben. Letzteres werde auch in Zukunft von Fall zu Fall auf Grundlage der nationalen Gesetzgebung entschieden, schränkte Sauli Niinistö ein: Irgendwelche „ungelösten Auslieferungverfahren“ mit der Türkei habe jedenfalls Finnland sowieso nicht. Es gebe auch keine Liste von Namen, die die Türkei ausgeliefert haben wolle.

Bleibt also Schweden. Ministerpräsidentin Magdalena Andersson und Außenministerin Ann Linde machten klar, dass man alle türkischen Forderungen in Bezug auf die kurdisch/syrische YPG/PYD abweisen werde. Womit Schweden und Finnland aber auch nur der Linie der meisten anderen Nato-Staaten folgen, die diese ebenfalls nicht als Terrororganisationen einstufen. Neu ist allerdings die Zusicherung Schwedens und Finnlands, die YPG/PYD nicht mehr „unterstützen“ zu wollen.

Laut Informationen der Tageszeitung Dagens Nyheter hat Schweden in diesem Jahr bereits zwei der Zugehörigkeit zur PKK Verdächtige an die Türkei ausgeliefert. Es gebe eine weitere Liste mit rund 10 Namen. Indirekt bestätigte dies Andersson: Es gebe „eine bedeutende Zahl“ von Auslieferungsbegehren der Türkei. Die würden vom Rechtssystem auf der Grundlage der nationalen Gesetzgebung und internationaler Konventionen behandelt.

Aus Ankara folgte am Mittwoch prompt eine Forderung: Die Türkei verlangte die Auslieferung von 33 „Terrorverdächtigen“ aus Schweden und Finnland. Eine Reaktion aus Stockholm und Helsinki blieb darauf zunächst aus.

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass Personen ausgewiesen werden, die die schwedische Staatsbürgerschaft besitzen“, sagt Magnus Ranstorp, Terrorforscher an der schwedischen Verteidigungshochschule: „Ist man kein Staatsbürger, hat man aber nicht den gleichen Schutz, wenn man eine Gefahr für die Sicherheit des Landes darstellt.“

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass Personen ausgewiesen werden, die die schwedische Staatsbürgerschaft besitzen“

Magnus Ranstorp, Terrorforscher, schwedische Verteidigungshochschule

Was sich abzeichnet, ist, dass Schweden sein 2019 nach der türkischen Invasion in Nordsyrien verhängtes allgemeines Waffenexportverbot in die Türkei in dieser Form aufheben wird. Zwar war dieser Export nie besonders umfangreich, aber für die Türkei eine wichtige Symbolfrage.

Wahrscheinlich sei der Weg zur Nato-Norderweiterung gar nicht so sehr durch das jetzige Abkommen freigemacht worden, sondern durch Zugeständnisse der USA – sprich Waffenlieferungen –, meint Jan Hallenberg vom schwedischen Außenpolitischen Institut. Das ließe sich auch der Äußerung von Magdalena Andersson entnehmen, die Nato habe „sehr geholfen“.

„US-Präsident Joe Biden hat vermutlich eine entscheidende Rolle gespielt“, vermutet auch die Tageszeitung Göteborgs Posten. Welche, werde wohl erst in den kommenden Wochen klar werden.

Ob die Türkei nun dem weiteren Beitrittsverfahren Finnlands und Schwedens wirklich keine neuen Hindernisse in den Weg legen werde, bezweifeln am Mittwoch mehrere schwedische Medienkommentare.

Das türkische Parlament könne den Ratifizierungsprozess mit der Begründung verzögern, Schweden komme den eingegangenen Verpflichtungen nicht nach, vermutet das Svenska Dagbladet. Auch in Ungarn könne es Probleme geben. Es sei noch ein langer Weg bis zur Mitgliedschaft: „Erst das erste Hindernis ist jetzt beseitigt.